Durchlässige und fragile Theater

Von Esther Boldt

In vielen kulturellen Räumen werden aktuell überkommene, hegemoniale und diskriminierende Strukturen hinterfragt, auch im Theater. Die Journalistin Esther Boldt schreibt darüber, wie kompliziert die entsprechenden Aushandlungsprozesse aussehen und wie fragil Orte der Vielfalt in diesen Tagen sein können.

Für wen sind die Grenzen durchlässig – und wer muss draußen bleiben? Junge Fußballer*innen vom afrikanischen Kontinent, erzählt der ivorische Tänzer Ordinateur im neuen Stück „Konami – Der Fußballtanz“ der Gruppe LA FLEUR, versuchten auf allen Wegen, nach Europa zu kommen. Selbst wenn es ihr Leben kosten könnte. Denn hier sei mehr Geld zu verdienen mit dem Sport, und die Spiele erhielten eine größere internationale Aufmerksamkeit. Mit dem Nebeneffekt, dass es stets die europäischen Clubs sind, die die internationalen Ranglisten anführen. Ordinateur hat eine leicht provokante Lösung parat: Fußballer*innen sollten künftig nur noch Mannschaften ihrer Herkunftsländer vertreten dürfen, so sein Vorschlag, um den Verlust der Talente zu stoppen und das Kräftegleichgewicht im internationalen Fußball wieder herzustellen.

Auf dem Fußballfeld ist, darauf weist Ordinateur implizit hin, die Frage der Repräsentation längst entschieden: Hier kann, beispielsweise, ein nigerianischer Fußballer zum Aushängeschild eines deutschen Clubs werden. In Politik und Theater dagegen wird weiterhin darum gerungen, wer wen repräsentieren darf.

Auf einer LKW-Pritsche ist ein großes goldenes Herz aufgehängt, hinter Streifen von roter und blauer Folie ist in einer Rückenansicht eine Person zu sehen, die zu einer größeren Gruppe von Menschen spricht. © Dorothea Tuch

Als offener Dialograum und Bühne verbindet der Theater-Truck die Städte und Spielstätten der Bundesweiten Foren.

In kulturellen Räumen befinden wir uns noch mittendrin: zwischen Foul und virtuoser Beinarbeit, zwischen der Schließung von Grenzen und dem Abschöpfen von internationalen Ressourcen. Dass bislang marginalisierten Positionen, Protagonist*innen und Erzählungen eine Bühne eingeräumt werden muss, ist einerseits unumstritten. Zu laut ist die Institutionskritik geworden in den letzten Jahren, zu energisch geführt die Debatte über strukturelle Diskriminierung. Viele Institutionen der sogenannten Freien Szene arbeiten, ihrer Entstehungsgeschichte und internationalen Vernetzung entsprechend, bereits länger daran, Künstler*innen und Themen heterogener und breiter aufzustellen. Die Stadt- und Staatstheater beginnen, den literarischen Kanon kritisch zu befragen und riskieren bisweilen gar einen Blick darauf, ob ihr Ensemble tatsächlich in der Lage ist, die Bevölkerungsstruktur ihrer Stadt zu repräsentieren.

Hier wie dort werden die hierarchischen Leitungsmodelle der Häuser infrage gestellt, neue Modelle wie Teamleitungen und Doppelspitzen etabliert. Und das Berliner Theatertreffen führte 2020 eine 50%ige Frauenquote ein, die bestimmte Arbeitspraxen und Routinen erst sicht- und damit diskutierbar machte.

Doch nicht nur die Kulturinstitutionen selbst sind herausgefordert. Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse, also die Umwandlungen von überkommenen, hegemonialen und diskriminierenden Strukturen, reichen weit über sie hinaus. Und sie bedürfen einer umfassenden Moderation und Begleitung – ebenso wie einer gewissen Resilienz auf Seiten der Politik. Kulturpolitiker*innen müssen es aushalten können und wollen, dass ihre Arbeit einmal nicht konsensfähig und unmittelbar ‚erfolgreich‘ ist (ein Erfolg, für den es übrigens seit Jahrzehnten nur ein sehr langweiliges Kriterium gibt, das der Auslastung nämlich). Bedeutende Theater-Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären ohne einen gewissen Stoizismus der verantwortlichen Politiker*innen undenkbar gewesen, keine Pina Bausch in Wuppertal, kein William Forsythe in Frankfurt am Main, um zwei sehr prominente Beispiele heranzuziehen.

Zudem werden die Institutionen, die ihre Praxen infrage stellen und nach Alternativen suchen, notwendigerweise etwas instabiler und angreifbarer. Denn eine Öffnung auf der Bühne bedarf immer auch struktureller Veränderungen hinter der Bühne, sind den gewachsenen Kulturinstitutionen doch strukturell Diskriminierung und Exklusion inhärent. Viele Institutionen investieren darum in interne Veränderungsprozesse, in Schulungen der Mitarbeitenden und die Revision von Machtverhältnissen. All dies sind sinnvolle und wichtige Prozesse, die jedoch eines langen Atems bedürfen und einer gewissen Kontinuität. Sie sind fragil und unmittelbar von einem Zeitgeist bedroht, der angesichts tiefgreifender Probleme den schnellen Fix sucht, die einfache Lösung.

Noch bevor Transformationsprozesse einsinken können in die künstlerischen und institutionellen Praxen, noch bevor sie erprobt und verstanden, gar institutionalisiert werden können, wächst der Widerstand - und zwar von unterschiedlichen Seiten, die keinesfalls undifferenziert gleichgestellt werden können. So werden öffentliche Auftritte, die in bestimmten Kreisen als problematisch wahrgenommenen werden, immer häufiger von (Social Media) Kampagnen begleitet, die Menschen verunglimpfen, und die Politiker*innen, Redaktionen und Kulturinstitutionen massiv unter Druck setzen. Oft haben sie sehr reale Konsequenzen, und oft scheinen sie weniger von einer inhaltlichen Auseinandersetzung getrieben als von menschenverachtenden Positionen.

Strukturelle Veränderungen, deren Notwendigkeit endlich auch breiter anerkannt und getragen wird, werden so einzuhegen versucht. Denn die Offenheit und Ungewissheit, die diese Aufbrüche ins Unbekannte mit sich bringen, sind offenbar schlecht auszuhalten. Progressive Theater und ihre Programme werden, kaum haben sie ihre Arbeit aufgenommen, als „zu woke“ abgekanzelt, wie zuletzt unter anderem die Münchner Kammerspiele und das Schauspielhaus in Zürich. Damit wird, noch so ein Einwurf von der Seitenlinie, ein Terminus munter Feuilleton-geadelt, der erstmals von der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 1920er Jahren verwendet wurde, den nach 2014 jedoch die US-amerikanische Rechte für sich vereinnahmte, um progressive, rassismuskritische und queerfeministische Politik zu delegitimieren.

Wie weit dieser Rollback führen kann, ist derzeit etwa in Ungarn zu sehen, wo Victor Orbán in einem jahrelangen schrittweisen Prozess die finanzielle Förderung für die freie Kulturszene abgeschafft und ihre Arbeit dadurch nahezu unmöglich gemacht hat, während er im Jahr 2023 10,5 Millionen Euro in eine repräsentative, spektakuläre internationale „Theaterolympiade“ investierte. Aber auch deutsche Stadtparlamente und Kulturausschüsse werden durch die Anwesenheit der AfD in ihrer Arbeit geschwächt, wie unter anderem Peter Laudenbach in seinem Buch „Volkstheater“ nachweist.

Wenn der Kulturbetrieb weiterhin gegenwarts- und damit gesellschaftsnäher werden soll, wenn er anderen Protagonist*innen und Erzählungen als den hier bereits jahrhundertelang repräsentierten offenstehen soll, um dem eigenen Anspruch, die Gesellschaft der Gegenwart abbilden zu können, gerecht zu werden, dann kommen wir um etwas Ambiguitätstoleranz nicht herum. Denn nicht zuletzt fördert das Anerkennen unterschiedlicher Positionen, das Aushalten der Bewegung zwischen zwei sich widersprechenden Positionen, wie Mirna Funk in „Von Juden lernen“ anmerkt, das kritische Denken. Somit wäre es ein zuverlässiges Mittel gegen Ideologien und für eine stressresistente Demokratie.

Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN begleitet. Elisabeth Wellershaus betreut die Reihe, in der sie mit Autor*innen wie Esther Boldt, Nora Burgard-Arp, Zonya Dengi oder Mirrianne Mahn auf offene und geschlossene Räume in einer fragilen Gesellschaft blickt. Dieser Text beschäftigt sich mit Fragestellungen, die am 1. und 2. Juni auch Teil des Veranstaltungsprogramms in Leipzig sein werden. Unter anderem mit einem Impuls von Mirna Funk und anschließender Diskussion mit Prof. Dr. Oliver Decker (Direktor Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung an der Universität Leipzig),Tanja Krone (Performerin, Musikerin, Aktionskünstlerin) über gute Streitkultur, moderiert von Antonie Rietzschel (Leipziger Volkszeitung), einem Bericht über Angriffe auf die offene, liberale Gesellschaft im Feld des Theaters von Peter Laudenbach und einem Gespräch über Theater und Literatur als kritische Gefühlsschulen für ein Handeln gegen rechts zwischen der Schriftstellerin Heike Geißler und Dr. Simon Strick (Panzerkreuzer Rotkäppchen).

  • "DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN" - Programm am 1. + 2. Juni 2024 in Leipzig