Eigenregie, Escape-Rooms und Selbstermächtigung

Von Tom Mustroph

Das inklusive Ensemble Meine Damen und Herren beschreitet neue Wege des gleichberechtigten kollektiven Arbeitens. Der Kulturjournalist Tom Mustroph im Gespräch mit den Preisträger*innen des Tabori Preises 2022.

Meine Damen und Herren ist eine feste Gruppe von 14 professionellen Schauspieler*innen mit und ohne sogenannter geistiger Einschränkung und einem vierköpfigen Leitungsteam. Hauptberuflich ist das Ensemble in den Werkstätten des Hamburger Beschäftigungsträgers alsterarbeit gGmbH angestellt. Meine Damen und Herren entwickelt jährlich eine oder mehrere Produktionen. Heimatspielstätte ist seit zehn Jahren Kampnagel. Einzelne Darsteller*innen treten als Gäste auch auf anderen Bühnen auf. An dem per Zoom geführten Interview mit Tom Mustroph nahmen die Performerin Melanie Lux sowie Martina Vermaaten und Christoph Grothaus aus dem Leitungsteam teil.

Szene aus „Der Ball“: Eine stufenartige Bühnensituation mit einem mittig angeordneten Steg, der nach vorn ragt. Die Bühne ist in Nebel und pinkfarbenes Licht getaucht. Auf Steg und Stufen sitzen und stehen die Performer*innen von Meine Damen und Herren in bunten Kostümen, Kleidern und Perrücken. © Christian Martin

Vor kurzem hatten Sie Premiere mit Ihrer neuen Produktion Der Ball – 5 Befreiungen und 50 Neuanfänge. Die Inszenierung hatte eine andere Struktur als gewöhnlich. Ein Teil spielte sich in VR-Räumen ab, teils live, teils aufgezeichnet, ein anderer Teil live und analog. Wie ist es genau abgelaufen und wie ist die Idee dazu entstanden?

Melanie Lux: Zuerst hieß unser Stück Das Wunschschloss. Dabei haben wir von außen die Idee bekommen, wie man das durch Filme gestalten kann. Und dann haben wir beschlossen, das so ähnlich zu machen wie in den Videos, also mit Escape Rooms. Wir haben uns dann in Gruppen aufgeteilt und Ideen gesammelt. Ein Teil wurde zum Film und andere Teile haben wir live aufgeführt.

Christoph Grothaus: Auf der Seitenbühne war der Greenscreen-Raum, und an drei Wände wurde projiziert. Im zweiten Teil sind wir dann live zusammen mit dem Publikum auf der Bühne gewesen und haben getanzt.

Melanie Lux, wie war das für Sie und Ihre Kolleg*innen, mit VR zu arbeiten, also mit diesem ganzen technischen Aufwand?

Melanie Lux: Mir hat das sehr viel Spaß gemacht mit dem Film. Es war teilweise nur sehr schwierig, sich auf die Ideen zu einigen, so dass wir alle was davon haben.

Was meinen Sie damit?

Melanie Lux: Bevor der Film entstanden ist, mussten wir ja ein handfestes Drehbuch haben und die Ideen mussten alle feststehen. Und das war eben nicht so einfach, sich zu einigen. Bei den Dreharbeiten selbst hatten wir sehr viel Spaß zusammen.

Christoph Grothaus: Vielleicht kann man noch hinzufügen: Jeder Raum hat zusammen Regie geführt und Vorschläge für Kostüme und die Ausstattung gemacht. Beim Probenleitungsteam konnte man sich immer Rat holen, auch beim Dramaturgieteam.

Das klingt nach einer sehr komplexen Struktur: Es gab ein Team Ausstattung, Team Dramaturgie, Team Musik, Team Probenleitung, Team Organisation, Team Öffentlichkeitsarbeit und Team Technik und dann gab es jeweils ein Team für den einzelnen Raum? Und alle waren dann über die ganze Probenzeit in dieser Konstellation beieinander?

Christoph Grothaus: Jedenfalls für den ersten Teil, den digitalen Teil. Alle von uns konnten sich zwei Jobs aussuchen. Was für uns aus dem Leitungsteam gar nicht so einfach war. Man musste sich genau überlegen, welche Bereiche gebe ich ab, über die ich sonst die Kontrolle habe.

Und was haben Sie dann abgegeben?

Christoph Grothaus: Zum Beispiel die Probenleitung.

Und welchen zweiten Bereich haben Sie sich gesucht?

Christoph Grothaus: Dramaturgie und Musik.

Melanie und Martina, welche zwei Bereiche hatten Sie?

Melanie Lux: Ich war im Dramaturgieteam und im Ausstattungsteam.

Martina Vermaaten: Ich hatte Dramaturgie und Probenleitung. Weil keiner von uns Regie geführt hat, haben wir externe Künstler*innen dazu gebeten. Am Anfang hatten wir, wie Melanie erzählt hat, Workshops, zum Beispiel von Sybille Peters und Esther Pilkington von der geheimagentur, die uns Vorschläge für das Format gemacht haben. Dann hatten wir einen Workshop bei Claude Jansen zum Thema: Wie können wir und wie können die Ideen zusammenarbeiten? Ein weiterer Workshop war mit Turbo Pascal, bei dem es um das Thema kollektives Arbeiten, Fallen und Chancen ging.

Das Modell insgesamt klingt einerseits sehr reizvoll, andererseits auch ziemlich anstrengend. Ist es zukunftsträchtig?

Martina Vermaaten: Also, ich glaube, dass es ein guter Weg ist. Es hat sich gezeigt, dass die Gruppen kleiner sein sollten. Ein Kollektiv von 18 Personen ist zu groß. Aber wir haben dabei Dinge herausgefunden, die sehr wertvoll sind, sowohl künstlerisch als auch in der persönlichen Entwicklung aller Teilnehmenden.

Zum Beispiel?

Martina Vermaaten: Dass man gehört wird und dass man das, was man tut, auch wollen muss. Es sagt keiner: Das musst du wollen, sondern man fragt sich selbst: Was will ich? Und jede*r hat die Chance, genau das einzubringen. Und daraus entsteht eine gemeinsame Freude.

Christoph Grothaus: Auf jeden Fall ist das Modell zeitaufwändig. Man spricht sehr viel. Es ist aber wichtig, sich diese Zeit zu nehmen. Für mich war es manchmal schwierig, weil ich gerne Sachen praktisch ausprobieren wollte. Und stattdessen haben wir dann viel geredet. Aber dafür haben wir alle immer ein Boot gehabt.

Melanie Lux: Wir hatten ganz viele Ideen. Und es war sehr schwierig, diese Ideen so zusammenzubringen, dass alle damit zufrieden sind. Das hatte ich vorhin schon angedeutet. Wir brauchten dafür sehr viel Zeit. Aber wir haben es geschafft und es hat sich gelohnt.

Szene aus „Welt ohne uns“: Ein weißer Bühnenboden auf dem ein Tauchbecken steht. Darüber hängt eine Person, kopfüber an den Füßen aufgehängt, wurde sie gerade aus dem Becken gezogen und ist gänzlich mit schwarzer Farbe bedeckt. Davor steht eine Performer*in und schaut dem Szenario zu. © Christian Martin

Meine Damen und Herren in der Preformance "Welt ohne uns"

Seit wann sind Sie alle schon bei Meine Damen und Herren? Und was hat Sie ursprünglich daran gereizt?

Melanie Lux: Ich bin seit April 2017 dabei. Ich wollte Schauspielerin sein und Drehbücher schreiben. Und überhaupt sind Theater und Film einfach mein Ding. Mich reizt es ganz besonders jetzt bei Meine Damen und Herren, dass wir mitbestimmen dürfen und selber sagen können, diese Idee finden wir toll und davon wollen wir möglichst viel umsetzen.

Martina Vermaaten: Ich bin im Oktober 2003 dazugekommen. Und was mich reizt, ist einfach die Vielfalt an Menschen.

Christoph: Ich habe einen Staats- und Stadttheaterhintergrund und bin eher durch Zufall zu Station 17[1] gekommen….

…Das war die Band, aus der in den 1990er Jahren Meine Damen und Herren schließlich erwuchs…

…Genau. Dort habe ich im Musikbereich der Barner 16[2] gearbeitet. Wir machten auch Musiktheater. 2012 bin ich zu Meine Damen und Herren gekommen. Was mich interessiert, ist die eigene Autor*innenschaft, also, dass unsere Ensemblemitglieder nicht nur als Darsteller*innen von fremden Inhalten auf der Bühne stehen, sondern ihre eigenen Geschichten erzählen. Und das war jetzt auch in der Pandemiezeit ein ganz guter Weg, weil wir auch aus dem Homeoffice arbeiten konnten. Wir saßen am Rechner, haben geschrieben, über Konzepte geredet und hatten eben dadurch eine andere Möglichkeit der Zusammenarbeit, als täglich auf einer Probebühne zu proben.

Da hat dann also die Pandemie und das distanzierte Kommunizieren über Bildschirme zu einer Art von Selbstermächtigung geführt?

Melanie Lux: Ja, das ist ja auch hauptsächlich entstanden, auch mit den Bildschirmen, weil wir im Lockdown waren. Man kann sagen: Wir haben sehr viel profitiert von dem Lockdown.

Martina Vermaaten: Wobei man sagen muss, dass es eigentlich schon viel früher angefangen hat, dass die Schauspieler*innen gesagt haben, wir möchten unsere eigenen Sachen machen. Da haben wir das Format Eigenregie entwickelt. Die Idee war, dass jede*r sich ein Thema wählen, das ausarbeiten und mit anderen Performer*innen zusammen ausprobieren konnte.

Christoph Grothaus: Ein Auslöser war eine Situation bei der Premiere 2012, als zwei Performer*innen von uns auf Amelie Deuflhard, die Intendantin von Kampnagel, zugekommen sind und gefragt haben, ob sie auch mal ein Stück machen können. Amelie wusste keine Antwort darauf. Es war ein peinlicher Moment, aber eigentlich der Anstoß für den Weg, den wir jetzt gehen.

Und Amelie hätte jetzt eine Antwort auf so eine Frage?

Christoph Grothaus: Ja, da bin ich ganz sicher.

Wie wichtig ist überhaupt Kampnagel für Sie als Auftrittsort?

Chtristoph Grothaus: Sehr wichtig. Seit Jahren machen wir eine Produktion im Jahr dort und haben auch engen Kontakt in der Konzeption der Stücke mit Kampnagel.

Martina Vermaaten: Und auch mit den anderen Künstler*innen, die dort aufführen, besteht ein gutes Verhältnis. Wenn wir zu den Endproben nach Kampnagel kommen, fängt auch eine andere Wirklichkeit an, denn wir gehen raus aus unseren alltäglichen Arbeitsräumen.

Christoph Grothaus: Allerdings kommen wir mit Kampnagel auch an Grenzen, weil sie eben nur eine Produktion im Jahr machen, wir aber beschlossen haben, lieber in kleinen Gruppen zu arbeiten. Viele aus unserem Ensemble arbeiten auch gerne mit Gästen. Das führt dazu, dass beispielsweise im letzten Jahr nur fünf Personen von uns in einer Produktion auf Kampnagel aufgetreten sind. Und für die restlichen neun Leute müssen wir andere Produktionen finden. Das hängt natürlich auch von der Förderung ab. Pro Jahr können wir nur einen Antrag stellen bei der Kulturbehörde Hamburg und auch beim Fonds Darstellende Künste. Deshalb suchen wir nach anderen Wegen und machen viele Kooperationen, mit freien Künstler*innen, aber auch mit anderen Theatern.

Martina Vermaaten: Eine Performerin war gerade für eine Residenz im Theater an der Parkaue.

Christoph Grothaus: Und eine beim Theater der Jungen Welt in Leipzig, zwei haben in einer Produktion beim Jungen Schauspielhaus Hamburg mitgespielt.

Das heißt, Spieler*innen Ihres Ensembles sind dann als Gäste in anderen Häusern gefragt und werden gern genommen?

Martina Vermaaten: Ja. Das freut uns auch sehr, macht es manchmal aber organisatorisch aufwändiger. Denn es erfordert immer auch eine Begleitung und eine Assistenz der Person und wir haben nicht unbedingt immer mehr personelle Kapazitäten. Das machen wir aber durch Leidenschaft wett.

Wie ist Ihr Standing in der Freien Darstellenden Kunst in Hamburg? Werden Sie als Kolleg*innen betrachtet oder doch als etwas Exotisches?

Christoph Grothaus: Also viele Kolleg*innen kommen zu unseren Premieren, gucken sich die Stücke an.

Martina Vermaaten: Ich finde schon, dass von vielen die Nähe gesucht wird. Und wir suchen auch die Nähe in unterschiedlichen Verbindungen. Und ich finde, die ganze Zusammenarbeit ist immer sehr respektvoll und auf Augenhöhe.

Melanie Lux: Auf Kampnagel, finde ich, sind sie richtig aufgetaut, als es auf die Premiere zuging. Da sind wir richtig toll zusammengewachsen. Wir haben ja auch gemerkt, wie erfolgreich wir wieder geworden sind. Schon bei der Hauptprobe waren ganz viele Zuschauer*innen da.

Christoph Grothaus: Insgesamt hat ein Wandel in der Szene stattgefunden. Als wir angefangen haben, ging eher der Kontakt von uns aus. Mittlerweile ist es umgekehrt, dass viele Kolleg*innen anfragen, ob sie eine Produktion mit uns zusammen machen können oder einzelne Leute in Produktionen mitspielen.

Martina Vermaaten: Es gibt einen Punkt, den ich noch wichtig fände: In dieser sogenannten Doppel-Struktur, zum einen als Werkstatt für Menschen mit Behinderung und zum anderen der Förderung Freier Gruppen durch Produktionsförderung, brauchen wir eine kontinuierliche Förderung eines Tandems zur Entwicklung künstlerischer Formate und Arbeitsweisen und für die Vernetzungsarbeit.

Christoph Grothaus: Aber da gibt es deutschlandweit eigentlich kein Beispiel, anders als in anderen Ländern wie Niederlande, Belgien oder England.

Wer wäre denn gefragt, um das zu ändern?

Martina Vermaaten: Die Bundeskultur?

Christoph Grothaus: Ja. Und natürlich die zuständigen Länder.

Was bedeutet der Tabori Preis für Sie?

Melanie Lux: Wow. Ich freue mich so!

Christoph Grothaus: Wir sind total aus den Socken gefallen.

Martina Vermaaten: Also ich finde, das ist ein wahnsinnig tolles Signal.

Was kann es bewirken in der Zukunft?

Melanie Lux: Das kann eine ganze Menge ändern. Man nimmt uns jetzt viel mehr wahr. Und damit zeigt man ja auch, was wir alles für tolle Schauspieler*innen sind, auch mit Handicap. Und vielleicht kommen dann immer noch mehr Leute auf uns zu.

Christoph Grothaus: Ich denke, wir sehen uns gerade am Beginn eines strukturellen Wandels, an dem wir noch mal genau überlegen müssen: Ist diese Form die richtige, oder müssen wir woanders hin? Und da hilft so ein Preis unheimlich, Dinge zu verändern und auf den Weg zu bringen.

Wohin zum Beispiel?

Christoph Grothaus: Dass die Schauspieler*innen in viel mehr Kontexten vorkommen, auch an Stadt- und Staatstheatern zu sehen sind.

Martina Vermaaten: Und das eben in der eigenen Aussage, mit eigener Autor*innenschaft. Da könnte der Preis noch einmal eine Wirkung haben.

Christoph Grothaus: Im Prinzip ist das ja ein Thema, das nicht nur Menschen mit Behinderungen angeht. Denn ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft ist überhaupt nicht auf Bühnen präsent. Und da sehen wir uns als Vorreiter*innen, auch europaweit.

[1] Anm. d. Red.: Die Mitglieder der inklusiven Band Station 17 gründen 1995 eine eigene Theatergruppe namens Station17Theater. 2005 benennt sich die Gruppe in Meine Damen und Herren um.

[2] Anm. d. Red.: barner 16 ist das inklusive Netzwerk für professionelle Kulturproduktionen von alsterarbeit. Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten darin in verschiedenen künstlerischen Bereichen wie Musik, Film und Video, Theater, Tanz und Performance und Bildende Kunst.