Eine Szene, die schon da ist

Von Elena Philipp

Kultur trotz(t) Krise (Folge 9) – Schwarzen und PoC-Künstler*innen aus Hamburgs Freier Szene verleiht Naomi Odhiambo in ihrer Kampnagel-Residenz mehr Sichtbarkeit

Für Entdeckungen aus Hamburgs Freier Szene bieten Naomi Odhiambo und ihre Kolleg*innen Raum, etwa beim Formation**Now Festival, das sie im September 2021 zum dritten Mal im Hamburger Oberhafen organisieren. „Uns ist wichtig, Menschen, die in Hamburg aktiv sind, einzubeziehen – Künstler*innen, die schon etwas machen und auf die wir aufmerksam werden“, erzählt Odhiambo. „Diese Künstler*innen sind oft in Off-Spaces unterwegs, aber haben keinen Raum, ein größeres Publikum zu erreichen. Wir haben den Space, und statt nur Neues zu produzieren fragen wir sie, ob sie beim Festival etwas machen wollen. Damit wollen wir das Potential und Talent der lokalen Szene unterstützen und sie in Austausch bringen.“

Von den kleinen Kunsträumen in die großen Kulturinstitutionen

Naomi Odhiambo kennt selbst den Weg von den kleinen Kunsträumen in die großen Kulturinstitutionen: Mit 14 Jahren begann sie im Hamburger Verein LuKuLuLe Theater zu spielen – einem Verein für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, der Theater- und Tanzkurse oder Schreibwerkstätten anbietet. „In den Theaterworkshops der Regisseurin Mabel Preach war es selbstverständlich, dass ich nicht die einzige Schwarze Person in der Gruppe war“, erinnert sich Odhiambo. „Es war selbstverständlich, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen in den Stücken und Stückentwicklungen mitgedacht wurden ohne das explizit benennen zu müssen. Die Geschichte stand im Vordergrund, die Charakterentwicklung. Es ging immer darum, was uns interessiert: ‚Was wollt Ihr erzählen, welche Choreograph*innen findet Ihr cool?‘ So bin ich reingekommen in die Kunstszene.“

Nach der Schulzeit interessierte sich Naomi Odhiambo für die Ästhetiken am Berliner HAU Hebbel am Ufer oder am Maxim Gorki Theater und wirkte als Performerin bei Projekten von Moritz Sauer, Gob Squad oder Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier und Christine Groß mit. Aus dem Hobby wurde ihr Beruf. „Und da ist mir aufgefallen – nicht durch die Projekte, die ich gemacht habe, aber je tiefer ich in die Theaterszene eingetaucht bin: Das ist gar nicht so normal, was ich früher gemacht habe, sondern mein Schwarzsein steht im Vordergrund und darauf wird viel projiziert“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, ich kann auf der Bühne keine Figur sein, die vielschichtig, komplex, liebend, interessant und individuell ist, sondern nur eine, die eine Geschichte des Widerstands oder Schmerzes erzählt, um einen Platz im Theater zu bekommen. Wenn gleichzeitig weiße Performer*innen und Schauspieler*innen immer unsichtbar oder ‚neutral‘ bleiben, ist das ein Problem.“ Ihr Denken sei durch diese Erfahrungen gesellschaftskritischer und politischer geworden.

Bühnensituation. Drei Performer*innen mit Mikrofonen stehen vorn. Einer von ihnen liest etwas von Moderationskarten ab. Im Hintergrund sitzen im Halbkreis drei weitere Personen. © Queer B-Cademy

Eingebunden in Hamburgs Kulturszene

Gemeinsam mit dem Kollektiv Formation**Now, dessen Mitglied sie ist, und in Kooperation mit den Deichtorhallen kuratierte Naomi Odhiambo 2019 „AwakenMiLove** Ausstellung der Un:Sichtbaren“ im Hamburger Oberhafen. Im Museum am Rothenbaum MARKK, dem ehemaligen Völkerkundemuseum folgt die Ausstellung „Immer.wieder.widerStand“ mit acht Schwarzen Künstler*innen. „Das ist auch wieder dieses Selbstverständliche von: Was sind die künstlerischen Praktiken, die gerade in Hamburg stattfinden, die wir interessant finden und die uns berühren? Was erreicht Menschen auf einer anderen Ebene, die nicht aus einer akademischen Perspektive kommen?“ Unterhaltung und Wissensproduktion gehören für Odhiambo und Formation**Now zusammen.

Mit Kampnagel kooperieren Formation**Now seit ihrer Gründung, Mabel Preach zeigt ihre Arbeiten seit vielen Jahren an Hamburgs Internationalem Produktionshaus. Formation**Now bespielen dort seit 2020 einen Abend lang eine Bühne beim Internationalen Sommerfestival. Daneben ist Naomi Odhiambo auf Kampnagel in diversen anderen Positionen eingebunden, etwa als Kuratorin bei der Queer B-Cademy des Künstlers Daniel Chelminiak, einem viertägigen Kunst-Event über intersektionale Perspektiven und queer-utopische, futuristische Praxis. Auch in der Publikumsbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit des Internationalen Sommerfestivals und in der Öffentlichkeitsarbeit des transkulturellen Krass Kultur Crash Festivals war sie schon tätig.

Wie vielen freischaffenden Künstler*innen drohte ihr durch Corona das auf mehreren Einkommenssäulen beruhende Verdienstmodell wegzubrechen. Mit der #TakeCareResidenz, die sie derzeit auf Kampnagel innehat, kann sie nicht nur ihre kuratorische Praxis fortführen, sondern sie auch erstmals in Ruhe reflektieren: „Wie kann ich meine Arbeit in Worte fassen und wie kann sie zukünftig aussehen? Was gibt es aus den letzten Jahren festzuhalten und wie würde ich das machen?“ Offene Fragen sind das, denen sie im Rahmen der Residenz bis Ende 2021 nachgeht.

Forschungsmittel für Künstler*innen und die Institution

Ausgeschrieben hat Kampnagel 2020/21 insgesamt 95 mit je 5.000 Euro ausgestattete #TakeCareResidenzen, finanziert mit einer halben Million Euro aus dem Programm Neustart Kultur der Bundesregierung und des Fonds Darstellende Künste. Wie Kampnagels Künstlerische Leiterin Amelie Deuflhard und die Dramaturginnen Uta Lambertz und Alina Buchberger berichten, konnte das Produktionshaus die Gelder nach eigener Maßgabe an Künstler*innen und Kollektive vergeben.

Konzipiert habe Kampnagel die Residenzen als Forschungsmöglichkeit – gewidmet dem Wissenserwerb auf Seiten der Institution wie der künstlerischen Communities, mit denen Hamburgs Internationales Produktionshaus verbunden ist. Ziel sei es gewesen, Künstler*innen zu unterstützen, strategisch Wissen zu Themen aufzubauen, zu denen das Haus ohnehin arbeite – „Flucht, Migration, postkoloniale Fragen, Rassismus, Inklusion, Klimawandel“, sagt Amelie Deuflhard.

Aufwändig sei der Vergabeprozess organisiert worden: „Wir haben überlegt, wer könnte etwas zu dem Thema machen?“, erklärt Alina Buchberger. „Manchen Künstler*innen, mit denen wir schon lange arbeiten, haben wir ermöglicht, sich bezahlt einem lange gehegten künstlerischen Anliegen zu widmen. Oder sie beschäftigten sich ohnehin schon damit“, so die Dramaturgin. „Durch die Residenzen sind auch massiv viele neue künstlerische Positionen neu ans Haus gekommen“, ergänzt Uta Lambertz – über Empfehlungen oder die Recherchen zu bislang zu wenig gehörten Positionen, denen sich das dramaturgische Team auf Kampnagel ein halbes Jahr lang gewidmet habe.

Institutionen als „Verteilerstationen“ für die Gelder einzusetzen, hält das Kampnagel-Team kulturpolitisch für eine gute Entscheidung. Aufgefallen sei ihnen, dass manche Künstler*innen von den Hilfsprogrammen nicht gut erreicht würden, berichtet Uta Lambertz: „Künstler*innen brauchten für die Antragstellung eine Meldeadresse in Deutschland, sie mussten Mitglied in der Künstlersozialkasse sein oder vergleichbare Nachweise erbringen und damit auch belegen, dass sie ein gewisses künstlerisches Einkommen haben. Im Grunde waren diejenigen ausgeschlossen, die eine Corona-Nothilfe am nötigsten gehabt hätten.“ Junge oder gerade in ihre Karriere gestartete Künstler*innen, die oft noch keine Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse aufzuweisen hätten, seien ebenfalls durchs Raster gefallen, ergänzt Amelie Deuflhard. Die Kampnagel-Leiterin hinterfragt auch den Fokus auf eine akademische Ausbildung, die als Nachweis künstlerischer Qualifizierung diene: „Wir kennen viele Künstler*innen, die sehr gut sind und die keine künstlerische Ausbildung haben – ich wüsste nicht, warum wir sie nicht fördern sollten.“

Solidarität im Geist der Freien Szene

Als Ausgleich begleitete Kampnagel die Anträge der Künstler*innen mit Einzelberatungen. Die Dramaturg*innen hielten immer wieder mit den Sachbearbeiter*innen beim Fonds Darstellende Künste Rücksprache, und das Produktionshaus nutzte die Möglichkeit der Begleitresidenz. Beantragten fünf Künstler*innen im Neustart Kultur-Programm gemeinsam eine #TakeCareResidenz, war es möglich, eine weitere Person ohne die eigentlich erforderlichen Nachweise mitzufinanzieren. Eine solidarische Regelung, die dem kollektiven Geist der Freien Szene entspricht.

Multiplikator*innen wie Naomi Odhiambo spielten bei dieser dezentralen Vergabe eine zentrale Rolle. Vernetzt mit Künstler*innen in der Hansestadt wie deutschlandweit, erreicht die Kuratorin und Performerin Schwarze Menschen, die mit den großen Kulturinstitutionen nur vereinzelt verbunden sind. „Unter dem Label Formation**Now möchten wir visionäre Konzepte umsetzen und Räume schaffen, in denen wir als Schwarze Künstler*innen kreativ frei sind und in denen wir auch in Zukunft existieren wollen. Eine Szene, die schon da ist, muss jetzt mal Geld bekommen – und Struktur.“ Veranstaltungsformate, Plattformen und vor allem Vernetzungsmöglichkeiten für Schwarze und Kulturschaffende of Color zu ermöglichen, ist dabei ihr Fokus.

Naomi Odhiambos Ansatz geht dabei über die kulturpolitische Gerechtigkeit hinaus: „Wie löst man bestimmte Hierarchien?“, fragt sie sich. „Kulturinstitutionen sind oft bedacht darauf, mit Künstler*innen von Hochschulen zu arbeiten, die wissen, wie man Strukturen navigiert, Projekte finanziert bekommt und wie man Kunst eine Relevanz verleiht, indem man sie in eine akademische Sprache übersetzt. Andere produzieren trotzdem – und ich bekomme es mit, weil ich mich in ihren Räumen bewege, etwa in der ‚urbanen Szene‘“, erklärt Odhiambo. „Es geht uns um die Präsenz von Ästhetiken, die schon da sind, aber in Off-Spaces schlummern. Wir wollen sie in die Kulturinstitutionen einbringen und damit auch eine Geschichte markieren, die in Hamburg allgegenwärtig ist, aber in bestimmten Institutionen noch nicht sichtbar wird.“

Konkret befragt Naomi Odhiambo im Rahmen ihrer #TakeCareResidenz Schwarze Künstler*innen aus der Freien Szene der Hansestadt zu ihrer Kunst und ihrem Werdegang. „Hamburg hat eine der größten Schwarzen Communities in Deutschland“, so Odhiambo. „Ich habe Lust, etwas zu den Künstler*innen aufzuschreiben, die ich immer wieder einlade.“ Vielleicht kann eine künstlerische Datenbank entstehen, die auch Programmbeauftragte anderer Kulturinstitutionen für ihre Recherchen nutzen könnten? „Es wäre toll, wenn es dahin ginge“, sagt Odhiambo. Auf jeden Fall werden die Ergebnisse in ihre eigene Arbeit einfließen – und damit auch auf Kampnagel wirksam werden. „Mein Blickwinkel wird auf Kampnagel einbezogen, weil ich mit den Leuten dort arbeite. In der Praxis findet das alles schon statt, was ich jetzt in Worte fasse. Die Künstler*innen, die an den Veranstaltungen mit Formation**Now beteiligt sind, werde ich in meine Recherche einbetten.“ Aus Praxis wird Reflexion und dann wieder Praxis: Dafür ist Raum in Naomi Odhiambos Residenz, die ihr und anderen neue Räume eröffnet.

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?