Herzlich Willkommen!

Von Elisabeth Wellershaus

Unsere Autorin Elisabeth Wellershaus ist nach Bitterfeld-Wolfen gefahren, um das Theaterfestival OSTEN im Entstehen zu beobachten, bei dem auch der Theatertruck von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN Halt macht. Vieles vor Ort hat sie überrascht – eine Reportage.

Auf dem Weg vom Bahnhof in die Stadt bin ich unsicher. In der Regel paart sich Neugier mit Unbehagen, wenn ich als Schwarze Frau in ostdeutsche Kleinstädte reise. Meist stehe ich hilflos vor der Frage, wie ich die Sorge um meine Sicherheit und die stereotypen Bilder, die mich begleiten, aus dem Weg räumen soll. In Bitterfeld-Wolfen scheint das Wahlverhalten der Bewohner*innen eine besonders deutliche Sprache zu sprechen. 37 Prozent der Menschen hier haben aktuell eine Partei gewählt, deren rechte Ausrichtung sich ganz einfach nicht wegdiskutieren lässt. Falls dieser Ort eine Willkommenskultur pflegt, dann gilt sie vermutlich nicht für mich.

Zwei Tage vor Beginn des OSTEN Theaterfestivals laufe ich zum Veranstaltungszentrum, das sich auf dem Gelände der Alten Feuerwache befindet. Während ich darüber nachdenke, wie sehr die Bewohner*innen von Bitterfeld-Wolfen sich wohl auf Lectures, Workshops und das Befragen der eigenen Gesellschaftsstrukturen einlassen werden, hält ein Auto vor mir an. Der Mann am Steuer winkt mich freundlich über die Straße. Auf dem kurzen Weg zur Feuerwache wird mir dasselbe noch zwei Mal passieren: Auf einer Strecke ohne Ampel und Zebrastreifen halten Autofahrer*innen an, nur weil sie sehen, dass ich auf die andere Straßenseite möchte. Ich plaudere mit freundlichen Passant*innen, die mir den Weg zur Feuerwache zeigen. Mit Kioskbesitzerinnen, die in den nächsten Tagen auch beim Festival vorbeikommen wollen. Und ganz langsam fühle ich mich angesprochen, wenn Wolfen in meine Richtung flüstert: Herzlich Willkommen.

An einem Metallgeländer, an dem in großen roten Buchstaben das Wort "Fragen" zu lesen ist, lehnen Besucher*innen des Festivals. © Falk Wenzel

Eröffnung des OSTEN Festivals in Bitterfeld-Wolfen am 01. Juni 2024.

Noch etwas überschwänglicher begrüßt werde ich im Festivalzentrum: vom kuratorischen Team, von Techniker*innen, Architekt*innen, der Administration. Und dann sammelt mich auch schon die Pressesprecherin Daniela Schulze ein. Entlang eines Kunstparcours, der die Arbeiten der Künstler*innen im gesamten Stadtzentrum zeigt, laufen wir durch Wolfen. Ich sehe Fotoarbeiten, Installationen und Filme, Werke von lokalen und zugereisten Künstler*innen, die versuchen, eine Brücke zur komplexen Vergangenheit der Stadt zu schlagen. Vor dem Hintergrund alter Fabriken erzählen sie von Faser- und Farbfilmproduktion und von der Chemieindustrie. Sie rufen Assoziationen an die viel zitierte Umweltverschmutzung in der Region hervor, aber auch an eine der ersten Umweltdemonstrationen, die zu DDR-Zeiten hier stattfand. Sie zeigen die Ambivalenz von Erinnerungen auf, die entsteht, wenn Braunkohlegruben zu Badeseen werden und giftige Altlasten doch allgegenwärtig bleiben. Sie beleuchten die spezifischen Erfahrungen von Frauen, die das industrielle Leben vor Ort geprägt haben. Und zwischen alldem schleicht der Geist eines historischen Kulturexperiments umher: das radikal partizipative Projekt Bitterfelder Weg, das Künstler*innen und Arbeiter*innen zu Beginn der 1960er Jahren zusammenbringen wollte.

Fragile gesellschaftliche Verbindungen

Ich sitze im Industrie- und Filmmuseum Wolfen, am Ende des Kunstparcours, sortiere historische und politische Fakten, sauge die geschäftige Kreativität der Stadt auf, und ein unentschlossen grauer Himmel zeichnet die Stimmung nach. Kurz darauf knallt der Regen sturzbachartig auf die ausgetrockneten Wiesen vor der Tür. Daniela Schulze und ich überlegen, ob wir es mit Mülltütenschutz bis zur Feuerwache schaffen, als der Leiter des Museums, Sven Sachenbacher, auf uns zukommt. Ein Mitarbeiter folgt ihm, eine Mülltüte in jeder Hand, doch Sachenbacher winkt ab. „Kommt, ich fahr‘ Euch“, sagt er. Und die kurze Fahrt bis zur Feuerwache wird er von der letzten großen Hochwasserkatastrophe erzählen. Im Festivalzentrum wird man mir später erklären, dass die Erfahrung, als die Mulde mit Wucht über die Ufer trat, viele verstörte. Dass der Umgang mit den Fluten jedoch auch eines der großen gemeinschaftlichen Ereignisse vergangener Jahre war. Eine Zeit, in der die Menschen aus der Gegend sich einander wieder verbunden fühlten. Und um fragile Verbundenheit soll es eben auch beim Festival gehen.

Zurück in der Alten Feuerwache erzählt Aljoscha Begrich, dass er mit seinem Team in erster Linie ein Festival FÜR etwas machen wolle, nicht GEGEN. „Es geht uns um Veranstaltungen für Diversität, für Demokratie, für Meinungsvielfalt – für einen Raum des Austauschs. Wir arbeiten mit Vereinen wie ‚Frauen helfen Frauen‘, mit dem Mehrgenerationenhaus, dem Amateurtheater, Schulklassen, Motorradvereinen und vielen anderen aus der Stadt zusammen. Und natürlich werden auch AfD-Wähler*innen darunter sein, da mache ich mir bei den Wahlergebnissen keine Illusionen.“

Mit hoch erhobenem Zeigefinger gibt Aljoscha Begerich das Zeichen für das offizielle Anbaden beim OSTEN-Festival. © Falk Wenzel

Aljoscha Begrich ruft auf der Bühne zum Anbaden auf und eröffnet damit das diesjährige OSTEN-Festival.

Die politische Realität vor Ort bleibt bitter, auch wenn die Menschen auf der Straße mir freundlich begegnen. Im benachbarten Raguhn-Jeßnitz stellt die AfD seit vergangenem Jahr den ersten hauptamtlichen Bürgermeister. Auch in Bitterfeld-Wolfen gehört sie trotz engagierter Initiativen zum Establishment. Dass Rassismus und Diskriminierung nicht vom Festival toleriert würden, verstehe sich eigentlich von selbst, sagt Begrich. Aber es gibt auch eine klare Hausordnung, und nur wer sich daran hält, ist willkommen. Die Hoffnung ist, dass ein möglichst heterogenes Publikum kommt, das sich für Geschichte und Gegenwart eines Ortes interessiert, der so viel über die Komplexität ostdeutscher Erfahrungen erzählt.

„Kunst wird zum Anlass für Begegnung und Austausch“

Von der Diakonie, verschiedenen Schulen und Jugendclubs bis zu Begegnungsprojekten der Kleingartenvereine sind etliche Menschen aus Wolfen involviert. Auch überregionale und internationale Unterstützer*innen sind beteiligt: Hochschulen und Universitäten aus Dresden, Berlin, Halle, Leipzig, Frankfurt (Main), Goethe Institute aus New York und Kiew, Künstler*innen aus den USA, Japan oder der Ukraine. So scheinen die Projekte, die über DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN finanziert werden, in bester Gesellschaft. Etwa Tanja Krones „Übung zu anregendem Wahlkampf“. Oder die Performance der Gruppe Das Helmi, die sich mit Beschäftigten der Diakonie und in der Auseinandersetzung mit dem Film „Die Legende von Paul und Paula“ auf die Suche nach Glück gemacht hat. „Ich sehe das ganze Festival als eine große Theaterinszenierung, in der Kunst Anlass zu Begegnung und Austausch wird“, sagt Aljoscha Begrich. „Ich glaube, die historische Tradition des Ortes trägt stark dazu bei, genau das zu ermöglichen.“

Als der Regen nachlässt, sehen wir, dass die Arbeit an der riesigen geplanten Wasserrutsche auf dem Vorplatz nur kurz durch den Regen unterbrochen wurde. Die Kinder der angrenzenden Kita stehen bereits wieder am Gartenzaun und blicken sehnsüchtig auf das Treiben nebenan. Vielleicht werden sie in den kommenden Tagen mit Eltern und Badesachen im Gepäck beim Festival vorbeikommen. Aber was ist mit den älteren Kindern der Stadt, die sich nicht mehr so leicht ins Gemeinschaftliche einbinden lassen? Einige von ihnen hat die Kunststudentin Carla Maruscha Fellenz fotografiert und auf großen Plakaten an einer Unterführung nahe des Filmmuseums präsentiert. Sie hat die Jugendlichen zur Bushaltestelle begleitet, wo man sie fast täglich nach der Schule antrifft. Es sind intime Bilder, die von Langeweile und Langsamkeit erzählen. Von einem Umfeld, das zwischen komplizierter Vergangenheit und politisch fragwürdiger Gegenwart steht und aus dem für Jugendliche nicht viel rauszuholen ist. Denn wer interessiert sich an Orten wie diesen umfassend für die jungen Menschen? Mit wem können sie reden? Und wer will jenseits engagierter Kulturwelten und ziviler Initiativen überhaupt offen miteinander reden?

Am Rand eines Wasserbassins sitzt eine Frau in nasser, kurzer Kleidung mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Zwei Menschen halten ihr Handtücher zum Abtrocknen entgegen. © Falk Wenzel

Besucher*innen des OSTEN-Festivals weihen bei der Eröffnung am 01. Juni die nunmehr fertig gestellte Wasserrutsche ein.

„Ich kam 2016 mit einer Haltung hier an, die ich mir in der Berliner Kulturwelt angeeignet hatte“, sagt Aljoscha Begrich. „Mein Motto damals: Mit Rechten rede ich nicht. Bei einem meiner ersten Besuche nahm der CDU-Bürgermeister mich mit ins Stadt-Parlament und sagte: An jedem dritten Tisch sitzt hier jemand von der AfD. Mir war also schnell klar, dass ich mit Rechten würde reden müssen. Sie saßen ja quasi schon in unseren Wohnzimmern. Für mich bedeutet das bis heute, aushandeln zu lernen, wie wir rechten Positionen keine Plattform gewähren – und es doch aushalten, dass es Berührungspunkte gibt. Weil sie in dieser Region allgegenwärtig sind.“

Matthias Goßler war einer, der Verbindungen herstellen konnte. Er hat eine Veranstaltungsfirma betrieben, ihm gehörte der Kulturpalast, und er hat das OSTEN Festival mit angeschoben. Als er vor zwei Jahren tödlich verunglückte, war das ein menschlicher Verlust, sagt Begrich, aber auch ein politischer und sozialer. „Matthias war in der CDU, im Bürgerverein, im Basketballverein und kannte einfach jeden. Von ihm kamen die praktischen Tipps über Security Firmen, mit denen man gut arbeiten konnte und von denen man die Finger lassen sollte. Käme die AfD an Orten wie diesen an die Macht – und höchstwahrscheinlich wird sie das früher oder später – dann brauchen wir ganz neue Strategien, um die Kulturarbeit weiterzudenken. Wir werden ja weiterhin Genehmigungen von Brandschutzbehörden, Stadtwerken und Verwaltungsämtern brauchen. Müssen Strom beziehen und Beschilderungen auf den Straßen platzieren.“ Begrich fände es wichtig, den Austausch darüber zwischen den Beteiligten von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN anzuregen. Der Frage nachzugehen, was der zunehmende Rechtsruck ganz praktisch für Theatermacher*innen heißt?

Verwobene Stadtgeschichten

Für Künstler*innen in Bitterfeld-Wolfen heißt es momentan vor allem, die vielen, einander überlagernden Geschichten vor Ort zu erforschen. Die Fotografin Anke Heelemann hat private Fotos mit Bezug zur Stadt gesammelt. Entstanden ist eine sehr persönliche Arbeit mit Beiträgen aus Fotoalben, Erinnerungskisten und Brigade-Tagebüchern. Bilder von Familienfeiern, Alltagsszenen und Ausflügen, in deren Beiläufigkeit sich die Geschichten der Region entfalten. Auf den möglichen Bildunterschriften, die Heelemann für Besucher*innen des Festivals zur Verfügung stellt, um eigene Erzählungen zu gestalten, stehen Sätze und Wortschnipsel: „Ich war beim Film“. „Schützenkönig“. „Saure-Gurken-Zeit“.

„Als wir vor vier Jahren das erste Festival planten, haben wir uns gefragt, ob es möglich ist, an den Bitterfelder Weg anzuknüpfen?“, sagt Aljoscha Begrich und verweist auf die erstaunlich große Bereitschaft einiger Menschen vor Ort, sich auf Kunstprojekte einzulassen. „Wir haben festgestellt, dass in den Strukturen durchaus noch etwas drinsteckt, das sich retten lässt. Denn am Ende des Tages ist es die Idee einer sozialen Praxis: Künstler*innen begeben sich in die Realität und treffen sich mit arbeitenden Menschen, die wiederum angehalten sind, Kunst zu machen.“

Auf dem Rückweg nach Berlin steige ich in Bitterfeld um und denke an Monika Maron. In ihrem Buch „Bitterfelder Bogen“ hat sie sich mit Vergangenheit und Gegenwart des Ortes auseinandergesetzt und sich Jahrzehnte nach ihrem ersten Bitterfeld-Roman mit der Stadt ausgesöhnt. Doch wie stünde die notorische Islamkritikerin wohl zu den vielen arabischsprachigen Menschen, denen ich auf dem Bahnsteig begegne – Menschen, die aus aller Welt nach Sachsen-Anhalt gekommen sind? Wie steht Bitterfeld zu ihnen? Direkt neben mir steht eine junge Frau. Wie sich herausstellt, ist sie Marokkanerin, ein älteres Ehepaar, das sich ins Gespräch einklinkt, kommt aus Syrien. Etwas weiter entfernt sitzt eine Gruppe laut lachender junger Männer, auch sie sprechen Arabisch. Ich stelle mir vor, wie sie alle zusammen den Bahnhof von Bitterfeld-Wolfen verlassen. Dass sie ebenso herzlich empfangen werden, wie ich vor ein paar Stunden. Denn dann bestünde vielleicht noch etwas mehr Hoffnung. Für Bitterfeld-Wolfen – und für den Rest der Welt.


Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN begleitet. Elisabeth Wellershaus betreut die Reihe, in der sie mit Autor*innen wie Esther Boldt, Nora Burgard-Arp, Zonya Dengi oder Mirrianne Mahn auf offene und geschlossene Räume in einer fragilen Gesellschaft blickt.

Am 14. Juni macht der Theater-Truck der Reihe Halt in Bitterfeld-Wolfen und lädt u.a. zum Workshop "Schön aufmischen! Eine Übung zu anregendem Wahlkampf" mit Tanja Krone. Auf dem Spielplan stehen u.a. die Premiere von "Paul und Paula auf der Suche nach dem Glück ohne Ende" von DAS HELMI, die Perforamnce "Baggern" von STUDIO URBANISTAN sowie das Konzert "Holiday am Silbersee" der Wolfener Punkband AbRaum.

  • "DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN" - Programm am 14. Juni beim OSTEN-Festival in Bitterfeld-Wolfen