„Im Grunde wird das ganze Feld noch einmal neu bestellt.“

Von Christine Wahl

Kulturjournalistin Christine Wahl spricht mit den Tabori Preisträger*innen 2022 Meine Damen und Herren und Jurymitglied Carena Schlewitt über die Bedeutung des Tabori Preises für die ausgezeichneten Künstler*innen und Companies und über strukturelle und ästhetische Tendenzen in den Freien Darstellenden Künsten.

Es soll in diesem Gespräch um die Bedeutung des Tabori Preises gehen. Und da die niemand so realistisch einschätzen kann wie frühere Gewinner*innen, freue ich mich, neben der Jurorin Carena Schlewitt auch mit Ihnen beiden, Melanie Lux und Martina Vermaaten, zu sprechen. Sie vertreten – als Performerin beziehungsweise als Leitungsmitglied – die 1995 gegründete inklusive Theatergruppe Meine Damen und Herren, eine der ersten des Landes überhaupt, die den Tabori Preis im letzten Jahr erhalten hat. Und die erste Frage geht auch gleich an Sie: Bei dem Preis handelt es sich ja um die bundesweit höchste Auszeichnung für die Freien Darstellenden Künste – er ist mit 25.000 Euro dotiert. Was haben Sie mit dem Preisgeld gemacht?

Melanie Lux: Wir haben eine Tabori-Preis-Party gefeiert, bei uns in den Arbeitsräumen von Meine Damen und Herren in Hamburg. Wir hatten alles liebevoll geschmückt und hergerichtet. Die Party war ein voller Erfolg, es kamen unglaublich viele Gäste!

Was für eine Bedeutung hatte die Auszeichnung für Sie?

Lux: Der Preis war eine ganz tolle Nachricht für uns, wir haben uns riesig gefreut, weil es eine supertolle Anerkennung unserer Arbeit war. Zu der Preisverleihung nach Berlin wollten dann auch viel mehr Leute mitkommen, als mitgenommen werden konnten.

Denn insgesamt sind Sie mehr als zwanzig.

Lux: Genau. Darum haben wir beschlossen, dass wir eben zusätzlich noch einmal diese Tabori-Preis-Feier bei uns in Hamburg machen.

Martina Vermaaten: Ich kann vielleicht noch ergänzen, dass ein Teil des Preisgeldes in unsere nächste Produktion einfließt und uns somit die weitere Arbeit mitfinanziert. Und natürlich, dass ich ebenfalls sehr glücklich war über die Auszeichnung. Früher, wenn befreundete Künstler*innen den Preis bekamen, haben wir uns immer total mit ihnen gefreut. Und wenn wir mal wieder zu einer der Preisverleihungspartys gingen, dachte ich insgeheim: Die Auszeichnung irgendwann selbst zu bekommen, wäre eigentlich auch mal schön! Als ich dann letztes Jahr tatsächlich den Brief öffnete – und natürlich meine Brille nicht aufhatte – konnte ich es gar nicht glauben: Wie bitte? Was steht da? (Lacht) Ich fand es natürlich, neben vielem anderen, auch ein wichtiges politisches Signal.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth steht auf der Bühne und applaudiert den Mitgliedern von "Meine Damen und Herren", die ebenfalls auf der Bühne stehen. Ein Mitglied hält die Trophäe des Tabori Preises in den Händen. © Gianmarco Bresadola

Tabori Preisträger*innen 2022: Meine Damen und Herren

Carena Schlewitt, Sie sind dem Tabori Preis seit vielen Jahren als Jurorin verbunden und kennen sich qua Beruf exzellent in der Freien Theaterszene aus. Als Kuratorin haben Sie unter anderem am Berliner HAU gearbeitet, später gingen Sie als künstlerische Leiterin an die Kaserne Basel und sind aktuell Chefin von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden. Welche Relevanz hat der Tabori Preis aus Ihrer Sicht?

Carena Schlewitt: Ich war 2010 schon einmal Teil der Jury und deshalb damals bei der allerersten Jurysitzung für den Tabori Preis dabei, als wir norton.commander.productions und Gintersdorfer/Klaßen ausgewählt haben. Dieses Ins-Leben-Rufen der Auszeichnung war wirklich etwas sehr Besonderes. In den 1990er Jahren kam es ja zu einer Erneuerung der Freien Darstellenden Künste, es tat sich ungeheuer viel, auch im Osten – Stichwort Theaterhaus Weimar oder eben norton.commander.productions aus Dresden, neben vielen anderen. Es gab das Impulse-Festival und natürlich den Fonds, und plötzlich kam etwas Neues hinzu: ein Preis, der auch noch mit so einem Namen verbunden ist. Ich weiß gar nicht genau, wie es dazu kam, dass die Auszeichnung »Tabori Preis« heißt. Aber wenn ich mir so überlege, wo George Tabori in seinem Leben überall hingekommen ist, mit welchen Künstler*innen – und in welchen Lebensrealitäten – er gearbeitet hat, wie international er unterwegs war und wie unprätentiös auch, dann finde ich immer wieder, das ist wirklich ein toller Name für diesen Theaterpreis, genau für diese Szene, die sich immer wieder auch verändert und neu erfindet.

Wie funktioniert eigentlich das Auswahl-Prozedere? Nominiert werden können sowohl für den Tabori Preis als auch für die Tabori Auszeichnung ja sämtliche Künstler*innen und Gruppen, die innerhalb der letzten fünf Jahre vom Fonds gefördert wurden. Wie genau kommt das Gremium auf dieser enormen Basis letztlich zu seinen Entscheidungen?

Schlewitt: Wir sind fünf Jury-Mitglieder, und jede*r von uns kann sowohl für den Tabori Preis als auch für die Tabori Auszeichnung zwei Vorschläge machen. Im Vorfeld der Sitzung bekommen wir zu allen nominierten Künstler*innen und Gruppen entsprechendes Material, also Arbeitsbeschreibungen, Links, Biografien etc. Wenn wir dann tagen, stellt jede*r die eigenen Vorschläge vor, begründet sie noch einmal ausführlich, und anschließend geht es in die Diskussion. Wie sich die Preisträger*innen dann letztlich ganz genau herauskristallisieren, kann ich tatsächlich schwer beschreiben. Weil man durch die Vorschläge der anderen auch immer auf Gruppen und Arbeiten aufmerksam wird, die man selbst vielleicht gar nicht kannte, ist das ein äußerst inspirierender Prozess, es herrscht grundsätzlich eine große Wertschätzung für die unterschiedlichen Vorschläge. Was ich aber auf jeden Fall sagen kann, ist, dass ein wichtiges Kriterium speziell für den Tabori Preis darin besteht, dass die betreffende Gruppe oder Künstler*in bereits über mehrere Jahre existiert und auf einem hohen künstlerischen Niveau arbeitet – während wir bei der Tabori Auszeichnung konkreter schauen, welche innovativen Formen uns begegnen und welche Themen neu und möglicherweise auch überraschend sind, sodass sie die Szene in diesem Sinne tatsächlich erweitern. Letztlich kann man sagen, die verschiedenen Preise treffen auf Akteur*innen oder Gruppen an unterschiedlichen Punkten ihres künstlerischen Prozesses.

Melanie Lux und Martina Vermaaten, Sie hatten ja schon über den symbolischen Wert und über die mit dem Preis verbundene Finanzspritze gesprochen. Hat die Auszeichnung darüber hinaus auch etwas Konkretes bewirkt, beispielsweise etwas an Ihrer Arbeit verändert?

Vermaaten: Vielleicht am ehesten, dass wir wieder ganz frischen Mut bekommen haben, uns weiterhin Fragen zu stellen. Wir haben ja in den letzten sieben Jahren versucht, uns zu kollektivieren, uns also ›gleichberechtigter‹ zu machen in unserer Arbeit und beispielsweise darum zu kümmern, dass die Performer*innen auch Lust haben, in der organisatorischen Struktur mitzuarbeiten, den Spielplan mitzubestimmen, eine Ahnung davon zu bekommen, was Dramaturgie bedeutet usw. Das war ein toller Weg, den wir jetzt aber trotzdem noch einmal hinterfragen wollen. Wir werden Workshops veranstalten, um Dinge herauszufinden wie: Wie wollen wir weiterarbeiten? Sind wir wirklich ein Kollektiv? Können wir eines sein – und möchten das überhaupt alle von uns? Außerdem ist die Benennung in Diskussion: "behinderte und sogenannte nicht behinderte Künstler". Das ist eine kniffelige Frage, die wir uns noch beantworten wollen.

Lux: Ich finde, wir sind durch den Preis aber auch sichtbarer geworden. Die Nachfrage ist gestiegen, es wollen noch viel mehr Menschen mit uns arbeiten.

Schlewitt: Die Leute rennen euch seit dem Preis die Bude ein?

Lux: Ja, wir haben sogar ein Filmangebot bekommen.

Schlewitt: So ein Preis kann sicher ein Zeichen setzen. Ich glaube, alle Künstler*innen oder Gruppen, die das Geld bekommen haben, haben es erst einmal für eine tolle Feier genutzt, aber immer auch für ein künstlerisches Projekt oder vielleicht eine Website oder ein Archiv. Das ist alles gut und wichtig, und es geht dabei immer auch um dieses Ausrufezeichen, eine künstlerische Leistung zu würdigen und gleichzeitig das Signal zu senden: Hey, schaut euch mal an, wie diese Gruppe arbeitet, schon seit Jahren – und was das bedeutet. Was der Preis aber definitiv nicht kann, ist, die Kontinuität zu gewährleisten – und darum geht es letztlich. Wir alle zusammen – die Produktionshäuser, die Freie Szene, andere Kolleg*innen, die ebenfalls in dieser Szene unterwegs sind – müssen uns dafür einsetzen, dass die Besonderheit dieser Art zu produzieren nicht nur gesehen, sondern auch mit den entsprechenden Fördermitteln unterstützt wird, siehe Fonds, siehe aber auch Länder und Kommunen.

Zwölf Performer*innen des Ensembles "Meine Damen und Herren" sind in bunten Kostümen auf der Bühne verteilt, in buntes Licht getaucht. Von der Decke senkt sich Nebel herab. © Christian Martin

Meine Damen und Herren. Produktion "Der Ball"

Wie nehmen Sie die Freie Szene denn aus Ihrer Juryarbeit heraus insgesamt wahr, Carena Schlewitt? Welche Entwicklungen, welche Besonderheiten beobachten Sie aktuell?

Schlewitt: Erstens sehe ich, wie ich finde, leider nicht genug. Das Feld ist enorm groß geworden; ich schaue, was ich schaffe. Was mir dabei strukturell auffällt, ist, dass sich jüngere Gruppen nicht in der Weise wie Gruppen der älteren Generationen als festes Kollektiv oder als feste Gruppe zusammenfinden, sondern stärker zwischen den Welten und auch zwischen den Gruppen switchen. Das finde ich ganz interessant, das ist so eine andere Form von Agilität. Und gleichzeitig bewundere ich dann aber doch die Gruppen, die sich zwischen den 1990er und 2000er Jahren gegründet und dieses Kollektiv immer weitergeführt oder eben eine Compagnie über Jahrzehnte geleitet haben, die also wirklich gemeinsam durch dick und dünn gegangen sind.


Diese Beobachtungen beziehen sich, genau wie Sie sagten, auf die strukturelle Ebene. Wie sieht es denn inhaltlich und ästhetisch aus?

Schlewitt: In beiden Hinsichten ist die Bandbreite sehr groß geworden. Ich habe den Eindruck, im Grunde wird das ganze soziale, gesellschaftliche, politische, aber auch das künstlerische Feld noch einmal neu bestellt. Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Inklusion – das sind alles riesige Themen, die die Künstler*innen und Gruppen in sämtlichen Varianten vom Figurentheater über Tanz und Performance bis zur Aktion im öffentlichen Raum bearbeiten. Manchmal habe ich fast das Gefühl, dass die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft so schwer wiegt, dass die künstlerische Sprache oder das künstlerische Projekt mitunter auch zurücksteht hinter der Haltung, hinter der Position, die man erst einmal für sich formulieren will. Natürlich lässt sich die Frage nach neuen Entwicklungen nicht so pauschal beantworten. Aber es ist zumindest eine Tendenz, die mir auffällt.

Plausiblerweise haben Sie alle, aus Ihrer je eigenen Perspektive, den Tabori Preis in unserem Gespräch sehr gewürdigt, gepriesen und seine Bedeutung für die eigene Arbeit herausgestellt. Lassen Sie uns zum Schluss dennoch ein Gedankenspiel machen, denn Träume hat man ja eigentlich immer: Wenn Sie sich die Auszeichnung selbst basteln könnten – gäbe es etwas, was Sie gern modifizieren oder noch ergänzen würden?

Lux: Wir hätten es gut gefunden, wenn die Preisverleihung bei uns in Hamburg gewesen wäre, dann hätten gleich alle von uns daran teilnehmen können.

Vermaaten: Was wir eigentlich am dringendsten benötigen, ist eine Unterstützung unserer Öffentlichkeitsarbeit. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass vielleicht so etwas mit dem Preis verbunden sein könnte – dass man fragt: Was braucht ihr eigentlich am meisten? Und dass man dem Preisträger oder der Preisträgerin dann genau dabei hilft. Ich denke, dass die Gruppen darauf tatsächlich auch sehr unterschiedlich antworten würden. So eine Art von Würdigung fände ich wirklich sehr schön.

Schlewitt: Klar: Mit dem Tabori Preis, der Tabori Auszeichnung und der internationalen Tabori Auszeichnung ist schon ganz vieles abgedeckt. Aber es gibt ja auch Teams oder Kollektive, die international arbeiten und sehr viel Wert auf gleichberechtigte Positionen beider Gruppen legen, also derjenigen, die in Deutschland ist und derjenigen, die in einem anderen Land arbeitet, unter schwierigeren Bedingungen. Und ich frage mich, ob es nicht auch dafür eine Form geben könnte: so eine Art von gleichberechtigter Zusammenarbeit mit einem Preis zu fördern.