„Nachbarschaft ist der kleinste gemeinsame Nenner der Demokratie“

Von Elisabeth Wellershaus

Das Phoenix Festival spielt Open Air und bringt fünf Gastspiele auf den Platz der Völkerfreundschaft in Erfurt, die, mit Blick auf die Einbindung unterschiedlicher Publika, das Gegenstück zu den Domstufen-Festspielen darstellen. Denn manchmal muss das Theater zum Publikum kommen. Elisabeth Wellershaus im Gespräch mit Annica Happich.

Elisabeth Wellershaus: Du leitest das Phoenix Theaterfestival in Erfurt, das nächste Woche eröffnet. Wie geht Ihr als Festival-Team mit der politischen Situation vor Ort um – auch mit den Herausforderungen einer schwierigen Förderarchitektur?

Anica Happich: Für die Antwort muss ich ein bisschen ausholen. Wer sich die Geschichte der Freien Darstellenden Künste ansieht, wird feststellen, dass sie in Ostdeutschland noch verhältnismäßig jung ist. Vor allem sind die so genannten neuen Bundesländer schwach ausgestattet, was eine abgestimmte Förderarchitektur zwischen Land, Kommunen und Bund betrifft. In Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ist es besonders gravierend. Es gibt überschaubare Mittel, die man beantragen kann, wenig bis keine institutionelle Unterstützung oder mehrjährige Projektförderung für Gruppen und Festivals. Auch mit Phoenix starten wir jedes Jahr wieder bei Null Euro und das jetzt zum vierten Mal.

Auf Landes- und kommunaler Ebene gibt es in Erfurt mittlerweile eine sehr starke AfD, die bei den Wahlen im Mai zweitstärkste Kraft nach der CDU geworden ist. Ich kann nur mutmaßen, was für Auswirkungen die politischen Entwicklungen in Zukunft auf die Kulturarbeit in der gesamten Region haben werden. Aber was ich jetzt schon sagen kann: Wenn wir keine demokratischen Mehrheiten mehr haben, werden Kultur und Bildung es schwer haben.

Aufkleber an einem Laternenmast. Aufs Regenbogenfarben steht in schwarzer Schrift: "Lebe so, dass die AfD was dagegen hätte!" © Sebastian Bolesch

Wellershaus: Wie nimmst Du die Situation von Kolleg*innen wahr, die in der Region leben und arbeiten?

Happich: Es gibt etliche Kulturarbeiter*innen in Thüringen, die unglaublich engagiert sind. Überhaupt nehme ich in Thüringen eine starke Zivilgesellschaft wahr. Ein Beispiel ist die Initiative Weltoffenes Thüringen. Die Kolleg*innen, die hier im ländlichen Raum arbeiten, stemmen enorm viel und bekommen trotzdem viel Widerstand zu spüren. Türen werden buchstäblich vor ihnen zugeschlagen, sie werden beschimpft, es gibt rassistische, menschenverachtende und teils sehr unangemessene Kommentare, die manchmal auch durch die mediale Berichterstattung aufgegriffen werden. Die politische und gesellschaftliche Radikalisierungsspirale ist hier längst vollzogen. Die Räume, in denen offene und kritische Gesellschaft stattfinden kann, werden immer kleiner. Das bedeutet, dass immer mehr von den wirklich engagierten Künstler*innen und Kulturakteur*innen aus Thüringen abwandern. Und die, die bleiben, haben kaum Möglichkeiten auf eine angemessene Förderung, ohne die ihre Projekte, und letztlich auch sie selbst, nicht überleben können. Auch ich habe mit der Leitung des Festivals, an dem ich fast ein Jahr gearbeitet habe, weniger als 10.000 verdient. Es ist hart dieses Jahr.

Die Töpfe für die Kultur hatten sich in den letzten Jahren zwar kurzfristig durch NEUSTART KULTUR gefüllt. Aber die Mittel können gar nicht so schnell nachwachsen, wie sie aktuell gebraucht werden. Und wenn sich extrem rechtes und ausgrenzendes Gedankengut weiter etabliert, wenn es politisch und gesellschaftlich salonfähig wird, werden viele Anträge bald sowieso nicht mehr durchgehen. Es werden bereits bewusst demokratische Mittel genutzt, etwa in Form von Kleinen Anfragen, um den Stadttheatern oder Stadträt*innen das Leben schwer zu machen, um ihren Berufsalltag zu verlangsamen.

Wellershaus: Was fehlt außer einer stabileren Förderarchitektur, um die Menschen vor Ort mit künstlerischen Ansätzen abzuholen?

Happich: Thüringen ist auch meine Heimat, und ich bin ganz sicher nicht bereit, sie Rechtsextremen zu überlassen. Aber ich nehme wahr, dass es an Räumen für die Versöhnung fehlt; Versöhnung mit der eigenen Geschichte und mit den Umbruchserfahrungen vieler ostdeutscher Menschen. Wir sind mit Phoenix viel im öffentlichen Raum unterwegs, gehen auf Marktplätze, auch an Orte, wo andere sich nicht hin trauen. Wir sind in der Ansprache sehr ehrlich, authentisch, diskutieren viel. Aber es geht bei unserer Arbeit in Erfurt vor allem um eines: Zuhören. Die Transformationsleistungen ostdeutscher Menschen ist, meiner Meinung nach, ein großer Schatz, eine Transformationskompetenz. Es geh um biografischen Brüche, Identitätsverlust, Verlust von Arbeitsplätzen, geringe Erbschaften und Besitz von Wohneigentum – die Liste ist lang. Und erst, wenn wir diese Umbruchserfahrungen und den individuellen Umgang damit ernst nehmen, erst wenn wir zuhören, kann Begegnung überhaupt stattfinden.

Wertschätzung und Anerkennung der Lebensleistung, das habe ich immer wieder erlebt, kann Frustwähler*innen dazu bringen, noch einmal darüber nachzudenken, wo sie ihr Kreuz auf dem Stimmzettel machen wollen. Wir haben letztes Jahr eine Publikumsumfrage im Südwesten und Norden von Erfurt gemacht, und eine Befragte sagte: „Wieso soll ich zu euch kommen? Kommt Ihr doch zu uns.“ Sie spielte darauf an, dass vor den politischen Umbrüchen 1989 mehr kulturelles Programm an den Orten stattfand, wo die Menschen auch lebten. Heute gibt es nicht mal mehr einen Begegnungsort in den Quartieren. Ich fand ihre Aussage absolut nachvollziehbar – und jetzt kommen wir zu ihr.

Wellershaus: Kannst Du genauer beschreiben, wie das Plattenstufen Festival aussehen wird, was habt Ihr inhaltlich geplant?

Happich: Wir arbeiten mit den Sozialarbeiter*innen vom Projekt Th.INKA aus dem Quartier zusammen. Weil sie die meisten Verbindungen haben: vom Kontakt zum Schulleiter bis zu den Menschen auf der Straße. Die wissen, was den Menschen in den Quartieren gerade wichtig ist. Sie haben auch den Mut, ansprechbar zu bleiben, sich in Gespräche verwickeln zu lassen, zuzuhören. In Berliner Kulturkreisen wird plötzlich überall und auf institutioneller Ebene diskutiert, wie mit Rechtsextremen zu reden ist oder was sich gegen Stammtischparolen tun lässt. Im Januar sind auch alle auf die Straße gegangen. Aber was passiert jetzt? Wer macht sich angreifbar, wer steht an den öffentlichen Plätzen in Ostdeutschland und redet mit den Menschen – länger als für die Dauer eines Performancenachmittags? Wir wollen den Menschen in Erfurt zeigen, dass wir mit ihnen im Austausch bleiben möchten – dass unsere Präsenz vor Ort nachhaltig ist. Und das geht nur über nachhaltige Kooperationen.

Dieses Jahr haben wir einen Container gemietet, den wir mitten auf den Platz der Völkerfreundschaft stellen. Dafür haben wir monatelang mit der Stadt und allen Ämtern zusammengearbeitet. Dort werden Guerilla Gardening, Textil-Workshops mit Kindern, Grafitti-Workshops, Elterncafés und Tauschbörsen stattfinden. Die Initiativen kommen aus den Quartieren auf diesen zentralen Platz und zeigen, was alles schon da ist. Denn es gibt ja schon so viele tolle und demokratiestärkende Projekte. Es fehlt nur an Sichtbarkeit. Sichtbarkeit für Nachbar*innen, für Eltern und Kinder, die im Alltag wenig Zeit zum Austausch haben. Sichtbarkeit für die vielen Demokratinnen und Demokraten, die von den Medien übersehen werden, die aber schon lange unentgeltlich und ehrenamtlich hier arbeiten.

Wellershaus: Was kann Begegnung vor diesem Hintergrund bewirken?

Happich: Ich glaube, die entscheidende Frage in diesen Zeiten ist: Überlassen wir die öffentlichen Plätze den Rechtsextremen und Verschwörungstheoretiker*innen? Oder besetzen wir sie als Kulturarbeiter*innen? Unser Ansatz ist: Veranstaltungen zur friedlichen Zusammenkunft kuratieren, in denen Nachbarschaftlichkeit und Genuss im Mittelpunkt stehen. Denn Nachbarschaftlichkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner der Demokratie.

Ich bin überzeugt, dass dadurch Neues entstehen kann. Dass wir uns anders begegnen, wenn Kaffeeklatsch und gemeinsames Innehalten Teil des Programms sind. Aber wir müssen auch schauen, wie es uns selbst nach diesem Festival geht. Wie wir umstrukturieren, was wir anders machen können, damit wir die Kraft behalten, um weiterzumachen. Und weitermachen wollen wir auf jeden Fall. Auch wenn die politische Situation um uns herum immer bedrohlicher wird. Auch wenn beim Festival Rechtsextreme auftauchen, wenn Menschen mit eisernem Kreuz im Publikum sitzen werden. Wir haben genug Awareness Training und Workshops gemacht, um zu wissen, wie wir in Ernstfällen reagieren müssen. Und wir spielen letztlich auch für diese Menschen. Weil sie ihre Kinder mitbringen – und die wollen wir erreichen.

Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN begleitet. Elisabeth Wellershaus betreut die Reihe, in der sie mit Autor*innen wie Esther Boldt, Nora Burgard-Arp, Zonya Dengi oder Mirrianne Mahn auf offene und geschlossene Räume in einer fragilen Gesellschaft blickt.

Am 16. August öffnet im Rahmen von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN ein transkultureller Schönheitssalon für Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Die Regisseurin, Musikerin und Performerin Tanja Krone leitet eine „Übung im Senf dazu geben“ an und lautstark schimpfen ANNAMEDEA und ihr Meckerchor auf dem Platz der Völkerfreundschaft. Die Plattenstufen-Festspiele, präsentiert vom Phoenix Theaterfestival, laden zum Networkformat „Let’s exchange Business Cards“, zur Western-Show „Im Brandzeichen des Astronomischen Pferdes“ und zum Schrottplatz-Musical „Cats of Erfurt“.