Thüringen? Dein Problem!

Von Christine Wahl

Die künstlerische Leiterin Lizzy Timmers, die Schauspielerin Pina Bergemann und die Dramaturgin Hannah Baumann im Gespräch mit Christine Wahl über die Auswirkungen des Theaterpreises des Bundes, den sie letztes Jahr gewannen, über ihre kometenhafte letzte Saison am Theaterhaus Jena und darüber, wie es jetzt – hoffentlich – weitergeht.

Das Team des Theaterhaus Jena mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor einer Fotowand © Dorothea Tuch

Das Team des Theaterhaus Jena mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth

Hannah Baumann, Pina Bergemann und Lizzy Timmers, vor neun Monaten sind Sie mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet worden. Was hat sich seither für Sie verändert?

Pina Bergemann: Viel. Unsere Welt hat sich um 180 Grad gedreht!

Fürs Theaterhaus Jena ging es im Anschluss wirklich Schlag auf Schlag: Erst wurden Sie mit Ihrer Ensembleproduktion „Die Hundekot-Attacke“ zum Heidelberger Stückemarkt und zum Berliner Theatertreffen eingeladen, dann gewannen Sie dort den 3sat-Preis, der Schauspieler Nikita Buldyrski wurde mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet und, und, und…

Bergemann: Ja, das war eine unglaublich aufregende und absolut großartige Saison für unser Haus – das so viel Rampenlicht ja gar nicht gewöhnt ist (lacht). Der Theaterpreis des Bundes hat diese Phase eingeleitet, er war der erste, durch den die Scheinwerfer auf uns gerichtet wurden. Vielleicht ist vieles andere überhaupt erst dadurch möglich geworden, wer weiß.

Lizzy Timmers: Es war auch eine tolle Erfahrung, aus der sogenannten „Provinz“ kommend Teil dieser Theaterszene in Berlin zu sein und die anderen Gewinnerinnen und Gewinner zu treffen.

Bergemann: Außerdem denke ich, dass der Preis bei den Politikerinnen und Politikern hier in Thüringen einiges ausgelöst hat. Ich hoffe, dass er dem Theaterhaus Jena einen Rückhalt gibt, der über die Saison hinaus andauert. Denn den kann es jetzt, glaube ich, gut gebrauchen. Wir wissen ja alle nicht, was nach den Landtagswahlen im September passiert.

Im erleuchteten schwarzen Bühnenraum steht eine Gruppe von fünf dunkel gekleideten Menschen. Ihre Haltung wirkt angespannt, ihre Körper sind mitunter gekrümmt, mit der linken Hand stützt jede*r von ihnen den nach vorn ausgestreckten rechten Arm. © Joachim Dette

Szene aus der Erfolgsproduktion "Die Hundekot-Attacke" des Theaterhaus Jena.

So wesentlich das symbolische Kapital des Preises ist: Die Auszeichnung ging auch mit ökonomischem Kapital einher. Wie haben Sie die 100.000 Euro angelegt?

Timmers: Dieser finanzielle Boost hat uns natürlich ermöglicht, sehr viel entspannter zu produzieren, das war großartig. Im Vorfeld der Spielzeit standen wir im Hinblick auf die erhöhten Energiepreise und die generell gestiegenen Produktionskosten mit den Füßen ziemlich auf der Bremse. Da hat das Theaterpreis-Geld vieles vereinfacht.

Bergemann: Und es hat uns einen bombastischen Abschied hier beschert!

Das ist wirklich verrückt: Da legen Sie als Ensemble die Saison Ihres Lebens hin, und dann müssen Sie aufhören – weil am Theaterhaus Jena turnusmäßig alle sechs Jahre die Leitung wechselt, ohne Wenn und Aber. Und diese Jahre sind in Ihrem Fall genau jetzt um. Machen Sie also den geflügelten Spruch wahr und gehen wirklich, wenn es am schönsten ist?

Bergemann: Fragen Sie nicht! (Zustimmendes Lachen.)

Der Abschied ist richtig, richtig schwer, oder?

Bergemann: Ja, definitiv! Andererseits muss ich aber auch sagen: Ich gehe lieber auf diese Art als leise. Insofern kann ich den Abschied auch genießen, weil sich das, wofür wir sechs Jahre lang gearbeitet haben, wirklich eingelöst hat. Ich kam ja damals aus einem Festengagement aus Leipzig und bin mit großem Idealismus ans Theaterhaus Jena gegangen, weil ich fand: Dieses Modell, das dort praktiziert wird, ist so anders – und so gut und wichtig! Deswegen freue ich mich, dass wir jetzt tatsächlich mit so einem Knall gehen.

Der ist in der Tat unüberhörbar: Das Jenaer Modell dürfte spätestens jetzt in allen Theaterköpfen angekommen sein.

Bergemann: Mich macht es total glücklich, dass das endlich gesehen wird! Bis vor zwei Jahren habe ich mich bei jeder der vielen Debatten über Kollektivität gefragt: Warum ruft eigentlich niemand bei uns an? In Jena wird dieses Modell schließlich seit jeher praktiziert! Und dann las und hörte man das also ständig und rang sich irgendwann vielleicht sogar mal durch, zaghaft eine Mail irgendwohin zu schreiben, und dann hieß es: „Jaja, wir melden uns ...“

Timmers: „Hm, aber zu euch kommt man ja gar nicht hin, da muss man ja in Erfurt umsteigen und dann auch noch mit der Regionalbahn fahren…“ (Kollektives Lachen)

Könnten Sie für den Fall, dass es doch ein paar letzte Versprengte gibt, die den Anschluss verpasst haben, Ihre Struktur noch einmal in aller Kürze skizzieren?

Bergemann: Am treffendsten lässt sie sich als semikollektiv beschreiben. Denn es gibt ja mit Lizzy Timmers und Maarten van Otterdijk ein klares Leitungsduo. Das finde ich schon deshalb wichtig zu erwähnen, weil es einfach unglaublich viel Arbeit ist: das ganze Tagesgeschäft, Mitarbeitergespräche, organisatorische Belange und so weiter. Die Leitung wird aber in allen Fragen vom Ensemblerat beraten, und sie trifft zusammen mit ihm die künstlerischen Entscheidungen. Der Ensemblerat konzipiert zum Beispiel die Spielzeiten, konkretisiert anschließend in gemeinsamer Diskussion die Spielpläne und legt die Besetzungen fest.

Hannah Baumann: Die Verteilung des Preisgeldes haben wir auch in der Gruppe besprochen: Jede und jeder konnte auf der Ensembleratssitzung sagen, worauf sie oder er Lust hat. Der eine hat sich für seine Produktion zum Beispiel eine Erhöhung des Ausstattungsbudgets gewünscht, die andere eine zusätzliche Musiker*innen-Position. Jemand wollte für ein Projekt ein externes Coaching, jemand anders ein Outside Eye und wieder jemand eine professionelle Aufzeichnung der eigenen Inszenierung.

Konnten alle Wünsche erfüllt werden?

Baumann: Ja. Und zusätzlich haben wir alle zusammen mit der Tanz- und Theaterwissenschaftlerin Anna Volkland an einer Publikation mit Gesprächen, Materialien und einem Essay zum Ensemblerat-Modell gearbeitet, die zu unserem Abschied erschienen ist: „HOW TO ENSEMBLERAT“.

Jetzt ist es wirklich vorbei, Ihre große Abschlussparty zum Spielzeitfinale liegt hinter Ihnen. Was nehmen Sie aus Jena mit?

Timmers: Ich bin ja vor sechs Jahren aus den Niederlanden gekommen und habe hier eine neue Sprache gelernt. Jetzt weiß ich, dass ich sogar Theater auf Deutsch machen kann – und dass ich auf jeden Fall noch eine Weile in Deutschland bleiben will.

Baumann: Ich nehme etwas mit, was sich gar nicht so leicht beschreiben lässt. Ich hatte ja sieben Jahre in Berlin gelebt, bevor ich nach Jena kam, und habe das Gefühl, hier etwas gefunden zu haben, was ich vielleicht am ehesten als anachronistisch bezeichnen würde – und zwar in einem absolut positiven Sinn. Man ist hier nicht so krass in einem bestimmten Lifestyle und in speziellen Diskursen unterwegs – die ja auch schnell etwas Konformistisches bekommen. Also es gibt hier nicht das gute Café, in dem dann alle sitzen, genau die richtigen Gedanken diskutieren und durchweg gleich gut aussehen, sondern eigentlich ist alles ein bisschen uncool – und darin liegt ein unglaubliches Potenzial, weil es einem erlaubt, einen weiteren, in einer bestimmten Hinsicht vielleicht freieren Blick auf die Dinge zu werfen.

Bergemann: Ich fand das Publikum hier absolut großartig und nehme die tolle Erfahrung mit, dass man mit Theater eben doch auch junge Menschen erreichen und dass man Leute durchaus mit neuen Inhalten und Stückentwicklungen begeistern kann. Wir sagen immer: Wenn man selbst für etwas brennt, dann brennen oft auch andere dafür. Dass sich das hier so derart eingelöst hat, war unglaublich schön.

Als Sie vor sechs Jahren in Jena starteten, hatten Sie einen wunderbaren Antrittsslogan im Gepäck: „Thüringen – kein Problem“. Wie lautet Ihr Abschiedsmotto?

Timmers: Ich habe das Gefühl, dass „Thüringen – kein Problem“ tatsächlich über unserer gesamten Zeit hier schwebte. Wir wollten das am Schluss auch noch einmal richtig feiern: dieses Gefühl, dass eine bestimmte weirdness hier noch möglich ist; ein empowering von Menschen, die irgendwie anders unterwegs sind als der Mainstream. Ich glaube, wir gehen jetzt auch aus Jena weg mit dem Wunsch: Bleibt einfach weird und cool, bleibt dieser Magnet! Denn es ist wirklich total beeindruckend, in was für einem tollen soziokulturellen Gewebe man hier arbeiten kann. Für eine so kleine Stadt existiert eine richtig coole Szene, es herrscht eine unglaubliche Energie, eine Art „Create-your-own-Dorffest“-Atmosphäre. Oder wie seht ihr das? Mit welchem Slogan verlassen wir die Stadt?

Bergemann: Irgendwann gab es mal die Idee, jede Spielzeit unter ein eigenes Motto zu stellen. Zwischenzeitlich kursierte nach „Thüringen – kein Problem“ zum Beispiel die Variante: „Thüringen – ein Problem?“. Zuletzt waren wir bei: „Thüringen – dein Problem!“

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Baumann: Für mich ist es gerade interessant herauszufinden, wie ich mich mit dem Arbeitsansatz, den wir hier in Jena praktiziert haben, in der Theaterszene weiterbewegen und wie ich Kolleg*innen kennenlernen kann, die ähnlich ticken. Denn ich habe das Gefühl, im Kontext der Spielenden ist das eine total lebendige, öffentlich geführte Diskussion, und es gibt viele Leute, die Lust haben mitzureden. Auf der Ebene der Dramaturgie existiert diese Debatte natürlich auch, aber – so ist zumindest mein Gefühl – viel theoretischer.

Also verbal feiert man liebend gern das Kollektive, aber in der Praxis hapert es?

Baumann: Man merkt schon, dass es auf der Führungs- oder auch der mittleren Leitungsebene Widerstände dagegen gibt, die Kontrolle ein Stück weit abzugeben. Und selbst, wenn man mit anderen Dramaturg*innen spricht, prallen die verschiedenen Perspektiven oft sehr vernehmlich aufeinander. Insofern ist das natürlich auch eine Frage an die gesamte Kulturlandschaft und die Kulturpolitik, in welchen Strukturen künftig gearbeitet werden soll, und ich bin gespannt, was sich da bewegt.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus, Lizzy Timmers und Pina Bergemann?

Timmers: Ich habe bisher eigentlich immer die Erfahrung gemacht, dass ich Menschen, mit denen ich sehr gut und intensiv zusammengearbeitet habe, in anderen Konstellationen wiederbegegnet bin. Insofern bin ich da sehr hoffnungsfroh.

Bergemann: Wir wollen gern zusammen weitermachen – ich glaube, dieser Plan steht, und das ist auch ein Bekenntnis. Wir wissen nur noch nicht, ob wir als Kollektiv einen Namen brauchen und wenn ja, welchen.

Wenn Sie sich einen Preis aussuchen könnten, den Sie an Ihrer nächsten beruflichen Station gewinnen – welcher wäre das?

Bergemann: Ich finde, es bräuchte eine Stiftung, die Reisekosten für Journalist*innen bezahlt, und ein Hotel, in dem 365mal im Jahr jemand kostenfrei übernachten kann, damit wieder mehr über die Theater außerhalb der Zentren und im ländlichen Raum berichtet wird. Denn mir leuchtet total ein, dass das für viele Medien nicht mehr stemmbar ist.

Baumann: Ich würde gern einen Anruf bekommen, bei dem es mir vom anderen Ende der Leitung entgegenschallt: Hey, wir haben hier einen Ort, an dem Menschen kollektiv in der Leitung arbeiten können – hättet Ihr vielleicht Lust?

Timmers: Genau: „Hier ist euer neues Theaterhaus!“ Das würde uns, glaube ich, im Moment wunschlos glücklich machen!

Die Publikation „HOW TO ENSEMBLERAT? Künstlerisch mitbestimmtes Arbeiten und das Ensemblerat-Modell am Theaterhaus Jena (2021–2024) – Gespräche, Materialien und ein Essay“, herausgegeben von Hannah Baumann, Pina Bergemann, Henrike Commichau, Leon Pfannenmüller, Lizzy Timmers (Theaterhaus Jena) und Anna Volkland, ist über die Website https://www.theaterhaus-jena.de/how-to-ensemblerat.html digital verfügbar, später auch als Print-on-Demand. Über die Webseite www.ensemblerat.de kann außerdem Kontakt mit dem Redaktionsteam des Ensemblerats aufgenommen werden.