Von Kunstfreiheit und Intersektionalität

Von Mirrianne Mahn

Die Schriftstellerin, politische Aktivistin und Theatermacherin Mirrianne Mahn befragt die aktuellen Diskussionen zum Thema Kunstfreiheit und stellt fest: Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit intersektionalen Perspektiven – die unter anderem auch das Arbeiten im Theaterbereich beeinflussen.

Unsere Wohlstandsgesellschaft suggeriert gelegentlich, Kunst sei ein Luxus und müsse schön und gefällig sein. Beseelt abends aus der Oper, dem Theater oder dem Konzert spazieren, mit Sekt oder Champagner bei der Vernissage eines renommierten bildenden Künstlers stehen oder im Foyer nach einem zeitgenössischen Tanzauftritt. Dabei leisten Kulturarbeit und -produktion so viel mehr. Vor allem für den politischen Diskurs liefern sie noch immer elementare und unverzichtbare Beiträge. Über sie lässt sich der Diskursraum erweitern und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse können anders als über etablierte Strukturen erfolgen. Denn Kunst bietet auch jenen Raum, die sich von der Mehrheit nicht repräsentiert oder gesehen fühlen, und sie schafft Verbindungen, wo vorher keine waren.

Vor 75 Jahren wurde das deutsche Grundgesetz verabschiedet, die geltende Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Zu den darin verbrieften 20 Grundrechten, die unabänderlich sind, gehört auch die Kunstfreiheit. Doch diese Freiheit scheint in jüngster Zeit immer wieder unter Druck zu geraten.

Die Kunstfreiheit ist ein individuelles Recht, das die Freiheit der künstlerischen Arbeit und Wirkung sichert. Besonders nach den Erfahrungen der NS-Kulturpolitik, die bestimmte Arten von Kunst verbot und Künstler*innen verfolgte, ist es wichtig, dass diese heute ohne staatliche Einflussnahme arbeiten können. Die Freiheit der Kunst findet ihre Grenzen lediglich dort, wo sie mit anderen Grundrechten kollidiert, wie zum Beispiel der Verletzung der Menschenwürde, der Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit oder der Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten. Rechtlich und von staatlicher Seite ist sie also theoretisch nicht bedroht. Die aktuelle Debatte darüber, was Kunst darf und wo ihre Grenzen liegen, wird durch andere Tendenzen ausgelöst.

Diskussionen über künstlerische Freiheit sind zunehmend geprägt von Begriffen wie „Politische Korrektheit“, „Cancel Culture“ und „Identitätspolitik“. Die Entwicklungen hin zu mehr Diversität und Vielstimmigkeit in der Gesellschaft scheinen in unmittelbarem Zusammenhang dazu zu stehen. Es sind Entwicklungen, die nach Meinung vieler zwar für mehr Gerechtigkeit sorgen könnten, doch dominante Gruppen wittern darin auch Nachteile, Sprechverbote, oder, wenn man so will, gar Unterdrückung. In dieser Logik werden aktuell vor allem die viel zitierten Identitätsdebatten als einschränkend wahrgenommen. Der Vorwurf: Der öffentliche Diskurs um Kunst werde durch die Bedürfnisse verschiedenster Minderheiten geprägt – und schränke die Kunstfreiheit ein.

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit standen Künstler*innen einer monolithisch wirkenden, normativ geprägten Gesellschaft gegenüber und kämpften für das Auflösen starrer Konventionen. Heute ist die Lage etwas komplexer. Denn es zeigt sich, dass das Einfordern diverserer Gesellschaftsbilder auf bisher unbekanntem Terrain Staub aufwirbelt. Dort etwa, wo marginalisierte Künstler*innen auf Sichtbarkeit und Teilhabe pochen und ihre Positionen an etablierten Exklusionsstrukturen rütteln. Ja, wir leben in Zeiten, da Kunst zum Schauplatz von Kulturkriegen über Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung geworden ist.

Eine in auffälligem orange gekleidete Person hält mit beiden Händen eine Plexiglasscheibe vor sich, auf der mit pink eine Vagina aufgezeichnet ist, und leckt mit ihrer Zunge die Scheibe ab. © Kathinka Schroeder

"Lecken" von CHICKS* Freies Performance Kollektiv ist Teil des Programms von "DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN" am 07. und 08. Juni in Düsseldorf. In der Vergangenheit wurde die Performance Ziel von rechter Hetze.

Inmitten einer Debatte über Einschränkungen durch eine angeblich „woke“ linke Blase, wird die Kunst aktuell vor allem aktiv von rechts manipuliert. Wie kürzlich bei dem Theaterstück „LECKEN“, das aus Mangel an Fördergeldern abgesagt wurde, aber gegen das auch stark aus rechten Kreisen gehetzt wurde. Das Stück des Kollektivs CHICKS* sollte Jugendliche ab 14 Jahren aufklären und sexuell weiterbilden, indem es diverse Aspekte von Körperlichkeit und Sexualität thematisierte. Rechtsextreme Gruppen wie die Freien Sachsen und Der Dritte Weg hatten öffentlich dazu aufgerufen, die Veranstaltung zu stören, und Hasskommentare auf der Facebook-Seite des Theaters und des Kollektivs hinterlassen. Ein Mitglied des Zwickauer Stadtrats, das den Freien Sachsen angehört, stellte der Oberbürgermeisterin Fragen zur „Verwaltung von Steuergeldern und zum Jugendschutz“ im Zusammenhang mit dem Auftritt des Kollektivs.

Die Instrumentalisierung konservativer Werte

Neben vehementer Kritik an einer linken „Cancel Culture“ missbraucht vor allem die extreme Rechte den Umgang mit Kunst derzeit oft als Waffe, um ihre eigenen ideologischen Ziele zu fördern und diskriminierende Ansichten zu verbreiten. Sie hetzt gegen Stücke wie das oben genannte. Und ebenso nutzt sie die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, um ihre Agenda voranzutreiben – um sensible Auseinandersetzungen mit diversen Themen zu unterminieren. Das alles schafft sie ohne tatsächliche Mehrheiten in den Parlamenten. Mit einer Taktik, die nicht nur heuchlerisch ist, sondern auch gefährlich, denn sie vergiftet den öffentlichen Diskurs und spaltet die Gesellschaft.

Wenn wir unreflektiert von einer Gefahr für die Kunstfreiheit sprechen, übersehen wir, dass Kritik und Debatte essenzielle Bestandteile einer lebendigen Kunstszene sind. Die Freiheit zur Kritik ist genauso wichtig wie die Freiheit zur künstlerischen Entfaltung selbst. Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass wir einen Missbrauch des Diskurses zulassen, der nur darauf abzielt, intolerante und exklusive Ideologien zu verbreiten. Nicht jedes Nachdenken über Verbote kommt sofort einer Zensur gleich. Das gilt in kulturellen Räumen ebenso wie in politischen, denn das Ringen um demokratische Werte verbindet die gesellschaftlichen Sphären derzeit auf komplexe Weise.

Ein mögliches Verbot der AfD etwa wird oft als Zensur und Einschränkung demokratischer Strukturen interpretiert. Doch diese Sichtweise verkennt den rechtlichen Rahmen, in dem ein solches Verbot erfolgen würde. Ein Parteienverbot in Deutschland ist kein Mittel zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen, sondern ein rechtliches Instrument, das nur unter strengen Voraussetzungen zum Einsatz kommt. Es setzt voraus, dass die betroffene Partei aktiv die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpft. Im Falle der AfD wären nachweisbare Verbindungen zu rechtsextremen Strukturen und die Förderung rassistischer und nationalistischer Ideologien entscheidende Faktoren, die die rechtliche Grundlage für ein Verbot liefern könnten. Hier steht nicht die Einschränkung demokratischer Rechte im Vordergrund, sondern der Schutz der Demokratie und der gesellschaftlichen Werte vor extremistischen Bedrohungen. Und letzteres wiederum bedingt auch den Schutz der Kunstfreiheit.

Intersektionale Perspektiven auf die Kunstfreiheit

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Theorie der Intersektionalität. Denn sie betont die Komplexität gesellschaftlicher Verflechtungen. Die Tatsache, dass Krisen verschiedene Menschen auf unterschiedliche Weise betreffen und dass die Anerkennung dieser Unterschiede notwendig ist, um Empathie aufzubauen und Ungerechtigkeit und Ungleichheit wirksam zu bekämpfen. Sie ermöglicht uns, parallel auftretende und sich gegenseitig verstärkende Formen der Ungleichheit zu analysieren. Das Center for Intersectional Justice (Zentrum für intersektionale Gerechtigkeit) erklärt die Theorie als „Bekämpfung von Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung, Bekämpfung von Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten und Schutz von Minderheiten innerhalb von Minderheiten“.

Diese Art der Analyse und Kritik ist der extremen Rechten ein Dorn im Auge, weil sie eine einfache, einseitige Weltsicht infrage stellt und jene Machtstrukturen aufzeigt, die diskriminierende Ideologien stützen. Diversitätsfeindliche Kräfte fühlen sich von der Intersektionalität bedroht, weil sie den Anspruch erhebt, alle Formen der Diskriminierung gleichzeitig zu bekämpfen und somit Versuche, bestimmte Gruppen zu marginalisieren, direkt herausfordert.

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Intersektionalität und Kunstfreiheit: Beide Konzepte zielen darauf ab, die Vielfalt und Komplexität menschlicher Erfahrungen anzuerkennen und zu schützen. Kunstfreiheit ermöglicht es Künstler*innen, diverse Erfahrungen auszudrücken und zu reflektieren, während die Intersektionalität sicherstellt, dass die unterschiedlichen und sich überschneidenden Formen der Diskriminierung berücksichtigt werden. Durch die Anwendung der intersektionalen Theorie in der Kunst können wir tiefere Einblicke in soziale Ungerechtigkeiten gewinnen und eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft fördern. Die extreme Rechte versucht, diese Bemühungen zu untergraben, indem sie die Kunstfreiheit für die eigenen Zwecke instrumentalisiert und Intersektionalität gleichzeitig als Bedrohung darstellt. Es ist also entscheidend, die wahren Absichten hinter solchen Taktiken zu erkennen und die Kunstfreiheit zu verteidigen, während wir gleichzeitig den Raum für intersektionale Analysen und Kritiken schützen.

Am Ende geht es darum, die Balance zu finden: Nur durch eine lebendige Auseinandersetzung kann Kunst ihre Rolle als Spiegel und Katalysator der Gesellschaft erfüllen. Die Kunstfreiheit zu schützen, bedeutet daher auch, die Freiheit der Kritik zu verteidigen – ohne sie aus politischen Gründen zu instrumentalisieren. Dies ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen.


Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die das Programm von DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN begleitet. Elisabeth Wellershaus betreut die Reihe, in der sie mit Autor*innen wie Esther Boldt, Nora Burgard-Arp, Zonya Dengi oder Mirrianne Mahn auf offene und geschlossene Räume in einer fragilen Gesellschaft blickt.

Dieser Text beschäftigt sich mit Fragestellungen, die am 7. und 8. Juni auch Teil des Veranstaltungsprogramms in Düsseldorf sein werden. Unter anderem diskutieren der kulturpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Helge Lindh und Jean Peters (Correctiv) über ein mögliches AfD-Verbot. Das Spannungsfeld von Antidiskriminierungsmaßnahmen und Kunstfreiheit nimmt aus rechtlicher Sicht der Jurist Dr. Lino Agbalaka in den Blick. Auf dem Programm steht ferner die Performance „LECKEN“ des Kollektivs Chicks* und das Gastspiel Introducing Living Smile Vidya“ der indischen trans*Aktivistin Living Smile Vidya.


  • „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ – Programm am 07. + 08. Juni in Düsseldorf