Vor der eigenen Haustür

Von Georg Kasch

Kultur trotz(t) Krise (Folge 6): Die hybride Veranstaltungsreihe „Solidarische Landschaften“ will Diversität in der Theaterszene stärken.

Mit was ringt diese Frau? Steif streckt Elmira Ghafoori Arme und Beine von sich, bewegt sich über die Bühne, als kämpfe sie mühsam gegen eine unsichtbare Kraft. Hinter ihr windet sich in der Filmprojektion ein Mensch in Fesseln. Ein Alptraum? „Unruhe“ heißt dieser zweite Teil des Projekts „Morgen Grauen“. Es ist das Gastspiel des transnationalen Ensembles Hajusom aus Hamburg bei den Fachtagen „Digitalisierung als Chance für Inklusion?“ des boat people projekts in Göttingen. Eine hybride Veranstaltung, live vor Ort und zugleich gestreamt, in der die Teilnehmenden diskutierten, ob und wie Digitalisierung den Zugang zu kulturellen Veranstaltungen für viele Menschen ermöglichen kann, die sonst keine Chance auf Teilhabe hätten.

Dabei ging es natürlich um Technik: Ein Musiker des boat people projekts und eine Sängerin, die in Stockholm lebt, demonstrierten etwa, wie man gemeinsam im virtuellen Raum musiziert, live und ohne Verzögerungen. Daneben wurden die Chancen diskutiert, über Online-Projekte internationale Zusammenarbeiten zu stärken und Kunst zu demokratisieren. Ist das Internet nun eine weitere Bühne, die unbedingt auch nach Corona weiter bespielt werden muss? Oder war es eine Notlösung, die die Künstler*innen nur allzu gerne hinter sich lassen, sollten die pandemiebedingten Beschränkungen fallen? Darüber herrschte durchaus Uneinigkeit. Einigkeit herrschte dagegen darüber, dass das Netz und seine Tools Barrieren abbaut, wenn es um länderübergreifende Koproduktionen und ihre Kosten geht.

Blick ins Publikum. Im Hintergrund ist ein Screen auf dem per Video zugeschaltetes digitales Publikum ist. © Sonja Elena Schroeder

Die Fachtage waren nur eines der sichtbaren Ergebnisse des Projekts „Solidarische Landschaften“, für das der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim mit dem boat people projekt in Göttingen und dem transnationalen Ensemble Hajusom in Hamburg kooperiert und das der Fonds Darstellende Künste über das Programm #TakeNote fördert. In dem gemeinsamen Projekt setzen sich die beiden Theatergruppen, die mehrheitlich nicht weiß sind, aber oft von weißen Deutschen geleitet werden, und das Produktionshaus kritisch mit dieser Situation auseinander. „Wie kann Solidarität gelebt werden?“, skizziert Jasmin Maghames vom Ringlokschuppen die Hintergründe. „Inwiefern kann man die Teilnehmenden empowern? Oder wo bremst dieses Engagement eher? Und was bedeutet das für die Organisation, die Verwaltung?“

Der Vernetzungsgedanke war nicht neu, sondern bereits erprobt – im Post-Heimat-Netzwerk, in dem sich sechs mehrsprachige Ensembles zusammengeschlossen haben, um langfristig bilinguale Kunst- und Theaterprojekte entstehen zu lassen. Darunter auch das Collective Ma’louba des Theaters an der Ruhr, das über das Netzwerk vier.ruhr mit dem Ringlokschuppen verbunden ist, das boat people projekt sowie das Hajusom-Ensemble. Die Kontakte bestanden also bereits, als die drei Akteure die „Solidarischen Landschaften“ anstießen. Dabei bearbeiten die Partner unterschiedliche Schwerpunkte: Das boat people projekt untersucht Diversität und Digitalisierung, wie bei den Fachtagen im Juli. Hajusom thematisiert Diversität und Sprache, etwa in Lesungen und Diskussionen. Und der Ringlokschuppen kümmert sich um Diversität und Kuratieren: Was bedeutet die Zusammenstellung eines Programms und von Künstler*innen in Verantwortung für eine vielfältige Gesellschaft?

Jedem Schwerpunkt ist ein eigenes Programm zugeordnet: Im Mai 2021 veranstaltete das Zentrum für transnationale Künste Hajusom Workshops, die coronabedingt online stattfinden mussten; Ende August folgt ein Diskursprogramm aus Workshops, Lesungen und Gesprächen. Im Juli fanden die hybriden Fachtage in Göttingen statt. Und im September wird das Netzwerk vier.ruhr parallel zum postmigrantischen Nachwuchsfestival Hundert Pro des Ringlokschuppens verschiedene Formate anbieten, etwa Workshops zu Empowerment oder diversitätssensible und diskriminierungskritische Kunst und Kulturarbeit sowie ein Podium über Kuratieren als antirassistische Praxis.

Die Kooperation besteht dabei nicht nur in inhaltlichem Austausch und in Gastspielen wie dem des Hajusom-Ensembles in Göttingen, sondern auch in gemeinsamen Veranstaltungen. So leitete Golschan Hashemi, Kulturwissenschaftlerin, Referentin für rassismus- und antisemitismuskritische Bildung und freischaffende Künstlerin, einen Workshop, der vermittelte, wie man als weiße*r Theaterschaffende*r Diversität umsetzen kann. Für BIPoC-Künstler*innen wird parallel ein Empowerment-Workshop angeboten.

„Diese Workshops sind Safe Spaces“, sagt Jasmin Maghames von Ringlokschuppen. „Ich habe einmal an so einem Workshop teilgenommen. Es war gut zu erleben, dass man mit den Erfahrungen, die man in der Kulturszene gemacht hat, nicht alleine war. Junge Kolleg*innen sind da oft sehr verunsichert. Da hilft es zu wissen, dass man sich nicht alleine in diesen Strukturen wiederfindet.“

Das Thema sei ja nicht neu, so Maghames. „Die Frage stellt sich heute aber noch einmal dringlicher, ob wir eigentlich diversitätssensibel arbeiten, gerade in den bestehenden Strukturen. Wie sehen eigentlich die Produktionsbedingungen aus? Kommen hier alle zu Wort, werden alle gleichermaßen gesehen? Und wer trifft am Ende die Entscheidungen?“ Rassismuserfahrungen wie die, die der Schauspieler Ron Iyamu am Düsseldorfer Schauspielhaus machen musste, gebe es überall, weil das Problem nicht an einzelnen Menschen hänge, sondern in den Strukturen liege. „Da stellen sich dann Fragen wie: Gilt die Kunstfreiheit noch, wenn etwas rassistisch ist? Wie wollen wir über solche Fälle sprechen? Und können wir das überhaupt, wenn wir nicht zuerst vor der eigenen Haustür kehren?“

So tasten sich die drei Kooperationspartner in diesem schwierigen zweiten Corona-Jahr behutsam zu den Themen vor, die die Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung etwas in den Hintergrund hat rücken lassen und die nicht nur für transnationale Gruppen und Häuser wichtig sind: Macht und Strukturen, Sprache und Achtsamkeit und die Frage, wie wir in Zukunft miteinander arbeiten wollen.

Weitere Termine Solidarische Landschaften:

27. und 28. August 2021, Hajusom (Hamburg, zum Programm)

23.-26. September 2021, „Kultur der Vielfalt – Chancen des Perspektivwechsels“ (Mülheim an der Ruhr, zum Programm)

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?