Wege aus dem Hamsterrad

Von Falk Schreiber

Wie entsteht eigentlich Darstellende Kunst? Mit seinem neuen Förderpaket #TakeHeart stellt der Fonds Darstellende Künste die ganz großen Fragen. Und ermöglicht dabei Ergebnisoffenheit. Holger Bergmann im Gespräch mit Kulturjournalist Falk Schreiber über die neuen Förderprogramme.

Holger Bergmann, vor über einem halben Jahr sprachen wir schon einmal miteinander. Seither ist einiges passiert: Der lange Lockdown war ein extremer Stresstest für die Kultur. Was bedeutet dieses halbe Jahr für Künstler*innen?

Man kann da nicht einen einzigen Parameter benennen. Es gab sicher Wechselwirkungen, das war eine Achterbahnfahrt – alle dachten, dass die Kunst wesentlich schneller zu ihrem Publikum zurückkehren würde, das war dann nicht der Fall. Was es gab, war so etwas wie ein großes Bemühen, ein Antragstellen, ein Planen, ein Überlegen: Was geht, was können wir machen, ein Verwerfen dieser Pläne, ein Neuorientieren. Es gab schon eine gewisse Unruhe, eine Unsicherheit, wie die künstlerische Arbeit weitergehen könnte, aber auch die Frage, wie es mit der eigenen sozialen Sicherheit weitergeht. Mit unserem Projekt der #TakeThat-Förderungen haben wir zumindest einen Teil der Arbeit ermöglicht, unter Pandemiebedingungen, digital, analog, auf Abstand, als Installation oder als geschlossener Arbeitsprozess, für den kein oder nur wenig Publikum vorgesehen ist. Auf der anderen Seite war das eine Zeit, in der sehr viel Geld für die Arbeit zur Verfügung stand, aber so wenig wie nie zuvor in Interaktion mit dem Publikum gemacht werden konnte.

Und für die Förderinstitutionen? Sie haben gerade schon angedeutet: Es fließt mehr Geld.

Ja. Und wenn mehr Geld fließt, dann heißt das, dass auch viel mehr entschieden und verwaltet werden muss. Aber was sich vor allem verändert hat, von Anfang an, war: die Haltung beim Rettungspaket, wo es um Erhalt und Stabilisierung ging, auf das zu lenken, was man Perspektiven nennt. Die aktuelle Situation ist ja nicht nur der Pandemie geschuldet, sondern auch einerseits einer sehr naturwüchsigen Förderstruktur, die in jedem Bundesland, in jeder Stadt anders aussieht, und andererseits einem sehr projektabhängigen künstlerischen und sozialen Leben, in dem alle Kosten mit einzelnen Projekten verbunden werden. Damit kann es aber keine Planungssicherheit geben. Und die besondere pandemische Situation hat das noch einmal verschärft. Beim Programm »Neustart Kultur« geht es deshalb nicht nur darum, die Beziehung zum Publikum wiederzufinden, sondern auch um die Frage: Wie kann sich diese künstlerische Szene zukünftig finden? Das ist jetzt nicht nur eine Hilfsmaßnahme, sondern man muss grundsätzlich untersuchen, wie Darstellende Kunst in Deutschland entsteht. Auf welchen Grundpfeilern entsteht sie? Wie unterschiedlich ist sie? Wie unterscheidet sie sich in ihrer sozialen Absicherung? Und wie unterscheidet sie sich ästhetisch und in ihren Formaten?

Portraitfoto von Falk Schreiber und Holger Bergmann. © Bernd Voelkel / Benjamin Krieg

Vor einem halben Jahr lautete die Frage: »Wie schaffen wir es, dass die Leute weiter ihre Miete zahlen können?« Und heute: »Wie entsteht eigentlich Darstellende Kunst?«

Wir sprechen ja jetzt über die Situation: Wir haben eine bundesweit aktive Darstellende-Kunst-Szene aus einzelnen Künstler*innen, meist Solo-Selbständigen oder GbRs, die produzieren künstlerischen Content, denken sich neue Formate aus und begründen darüber hinaus noch Strukturen mit. Dann gibt es Produktionsorte, Produktionshäuser sehr unterschiedlicher Größenordnung, von eher an Gastspielen orientierten Kulturhäusern bis zu größeren Einheiten. Und es gibt eine Förderlandschaft, die sich seit den Achtziger- und Neunzigerjahren kommunal entwickelt hat, dann haben die regional erfolgreichen Künstler*innen starke Förderungen in den Ländern erfahren, und schließlich gibt es auch eine Förderung durch den Bund. Und dieses gesamte systematische Produzieren braucht »stabile Flexibilitäten«, um Bewegung immer wieder zuzulassen. Das stellt bewusst Fragen an Kosten- und Finanzierungspläne, an Bedingungen und Vorgaben, weil man nur so einen künstlerisch-dynamischen Prozess behält und gleichzeitig sichere Finanzierungsinseln baut, damit die biografischen und sozialen Herausforderungen auch aufgefangen werden können.

Schauen wir uns mal das neue Förderpaket an, #TakeHeart. »Fass dir ein Herz« – welches Herz ist denn da gemeint?

Gemeint ist der Mut, diese Veränderungen auch zu kommunizieren, ein längerfristiges Denken wieder zuzulassen. Das ist natürlich in so einer Krisensituation nicht ganz leicht. Ein*e Künstler*in fragt sich tatsächlich »Wie kann ich meine Miete zahlen?«, und es nützt nichts, zu sagen »Nun hab’ doch auch mal Mut!« Aber man muss immer dann Mut fassen, wenn die Dinge grundsätzlicher in Bewegung kommen. Dieses Programm sagt: Wir begeben uns jetzt in eine unsichere Phase. Wir haben dafür sechs Förderlinien gemeinsam mit den Bundesländern und mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien abgestimmt, und das ist nicht die schnelle Idee des Rettungspakets, sondern ein planerisches Vorgehen. Die Stipendien aus dem #TakeCare-Programm haben sich als sehr geeignet erwiesen, um einzelnen Künstler*innen zu ermöglichen, jenseits von Produktionen konzeptionell zu arbeiten, von »Ich möchte Recherchieren« über »Ich möchte mein eigenes künstlerisches Profil weiterentwickeln« bis zu »Ich möchte meine Widersprüche größer machen«, was auch immer! Und jetzt müssen sie das nicht mehr mit Geld machen, das eigentlich für eine Produktion gedacht war! Deshalb haben wir entschieden, die Stipendien-artige Rechercheförderung weiter fortzuführen. Außerdem führen wir die Residenzen weiter, weil auch hier nicht die Produktion im Mittelpunkt steht, sondern die künstlerische Recherche und Entwicklung, gemeinsam mit den Produktionsorten. Zudem gibt es die Prozessförderung oder Schaffensprozessförderung, da geht es darum, einen Arbeitszeitraum zu fördern, für Künstler*innen, Ausstatter*innen, Regisseur*innen und Techniker*innen. Das machte man früher als Projektförderungen, doch jetzt kann am Ende des Arbeitsprozesses ein Ergebnis stehen, es kann auch zwei, drei Ergebnisse geben, aber vielleicht gibt es auch gar keines. Wir wissen ja immer noch nicht genau, wie die nächsten Infektionsschutzmaßnahmen aussehen werden. Neu ist die Wiederaufnahmeförderung, auf Anregung aus den Bundesländern, da geht es darum, Arbeiten, die in der pandemischen Zeit vielleicht allein digital entstanden sind, auf die Bühne zu tragen, anzupassen oder auch ganz nachhaltig wieder zu spielen. Und das letztes Fördermodul ist unsere Konzeptionsförderung, erhöht als dreijährige Förderung. Bis jetzt stecken die Künstler*innen ganz schnell in einem Hamsterrad und denken, man müsse immer weiter produzieren, weil eben bislang nur Produktionen gefördert wurden. Man muss sich also den Mut fassen, sich einmal auf das Hamsterrad zu setzen und sich die Frage zu stellen: »Was dreht sich hier eigentlich? Bin ich das, oder ist das das Rad? Wie sieht die Welt drumherum aus? Und wie komme ich aus diesem Käfig wieder raus?« Das ist wahrscheinlich die entscheidende Frage. Und da müssen nicht nur wir als Förderer Mut fassen, auch Länder und Kulturpolitik müssen Mut fassen. Und auch man selbst als Künstler*in sollte da noch einmal drüber nachdenken. Deshalb: #TakeHeart!

Sie haben gerade die Netzwerk- und Strukturförderung übersprungen…

Ha! Ich habe bis sechs gezählt, habe aber eines ausgelassen!

Da steht, wer gefördert wird. »Vereine, Verbände, Netzwerke, Tanz- und Theaterhäuser sowie überregional strahlende Festivals, die nicht überwiegend öffentlich (institutionell) gefördert sind.« Wer ist das eigentlich?

Das ist die grundsätzliche Vorgabe beim Programm »Neustart Kultur«. Hier soll keine Förderung der Länder ersetzt werden, der Bund will nicht die Verantwortung für feste Kulturausgaben der Bundesländer übernehmen. Bewerben können sich da zum Beispiel Verbände und Interessensvertretungen der Freien Darstellenden Künste. Oder unterschiedliche Netzwerke und Festivals, die ihre Einnahmen nicht zum größten Teil aus der institutionellen Förderung beziehen, sondern aus einer Mischfinanzierung vieler Koproduzenten.

Ein weiterer Punkt ist die Konzeptionsförderung. Da geht es um das, was man in der Kulturpolitik als »Leuchttürme« bezeichnet, und Sie sprechen explizit »langjährig erfolgreiche professionelle Künstler*innen« an. Da bewirbt sich dann die Handvoll internationaler Festivalstars?

Das ist immer eine Frage der Perspektive, und es geht auch genau darum, das zu beschreiben. Einmal wollen wir schon deutlich machen, dass wir uns mit dieser Förderung nicht an Nachwuchs richten. Bei einer dreijährigen Förderung von 200.000 Euro, im ersten Jahr 100.000, dann zweimal 50.000, geht es auch darum, nachweisen zu können, dass man nach diesen drei Jahren noch da sein wird. Und dann gibt es natürlich die Frage der Bewertung: Wer schätzt das ein? Bei #TakeThat haben wir mit über 80 Juror*innen gearbeitet, die unterschiedlich genau diese Bewertung »Was ist denn eigentlich langjährig erfolgreich?« vorgenommen haben.

Ein Begriff taucht immer wieder auf: »ergebnisoffen«. Der ist wichtig, aber er macht einerseits die Bewertung, andererseits die Antragsstellung kompliziert.

Ergebnisoffen sollen die Recherchen und die Residenzen sein. Das ist auch sehr wichtig, um klarzustellen: Das ist nicht Teil einer Produktion. Man soll nicht direkt wieder in die Produktionsschleife gehen, sondern die Förderung ist hier wirklich bezogen auf die künstlerische Konzeption und Recherche. Und dann haben wir die Prozessförderung. Da ist es in der Tat eine Herausforderung, hier in Beschreibungen zu kommen, auch in Finanzbeschreibungen. Aber das ist ein flexibleres Arbeiten, das betrifft nicht nur die Künstler*innen, das betrifft auch uns. Und gleichzeitig muss man sagen: Wir wollen damit nicht Zeiträume ohne Ergebnisse stimulieren. Das Ergebnisoffene ist zurzeit wichtig, weil wir nicht wissen, welche Schutzmaßnahmen noch kommen. Und dann darf es nicht heißen: »Wir können die Produktion nicht fertigmachen, und deswegen kriegen wir auch kein Geld für den Arbeitsprozess!« Bei der Projektförderung ist das ja so, während wir hier klarmachen: Es geht nicht um das Fertigstellen einer Arbeit! Aber es geht schon darum, dass gearbeitet wird!

Wird sich die Kunst für mich als Zuschauer verändern, wenn sich die Förderung verändert?

Ich würde sagen: Das, was sich verändert, sind die Rahmenbedingungen, in denen gearbeitet wird. Die sollen nicht immer stadttheaterähnlicher werden, es geht nicht darum, dass man spätestens bei der Bauprobe weiß, wie das Ergebnis sein soll und dass dann alle Gewerke nur noch dahin arbeiten. Das Thema ist vielmehr, wie Inhalt und Format miteinander in Beziehung stehen, es geht um das gesamte ästhetische Geflecht eines Abends, einer Vorstellung, einer Performance. Das würde ich mir als Förderer wünschen. Und im besten Fall, aus meiner Sichtweise auf Theater, würde ich mir dann auch wünschen, dass das was mit einem einbezogenen Publikum macht und mit den Sehgewohnheiten, mit denen man auf die Arbeit schaut oder sie gemeinsam entstehen lässt.

Gibt es Formen oder Künstler*innen, die von der Förderung nicht erfasst werden? Sie haben vorhin, beim Thema Konzeptionsförderung, angedeutet, dass Nachwuchs hier erstmal keine Chance hat.

Auf der anderen Seite wird der Nachwuchs durch das Residenzprogramm zum ersten Mal explizit angesprochen, das ist ein wichtiges Novum. Auch ist die Leerstelle für freie kuratorische und dramaturgische Arbeit, die im #takethat Programm blieb, nun in den Recherche-Förderungen geschlossen. Unauffällige Hintergrundarbeit, aber: Hier entstehen langjährige Beziehungen. Ein Bereich ist der Kulturjournalismus, vielleicht wird der über die VG Wort mit Stipendien ausgestattet. Und es gibt immer noch die offene Flanke der Schauspieler*innen, die als Gäste an Stadt- und Staatstheatern arbeiten, auch wenn die Verantwortung da ein bisschen mehr beim Bühnenverein liegt. Und schließlich gibt es die Akteur*innen, die mir in der Tat richtig Sorgen machen: Wir werden massive Einsparungen von Seiten der Länder und Kommunen erleben. Und diese Einsparungen werden sicherlich zum größten Teil das freie Produzieren treffen. Da geht es grundsätzlich darum, nachzudenken – jetzt sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs – wie man eine andere Kulturentwicklung denken kann, in kleineren und mittleren Städten, mit der Fragestellung, was Kultur und Kunst zukünftig für eine Region sein sollen.