„Wir haben tonnenweise tolle Projekte“

Von Christine Wahl

Der Geschäftsführer Hendrik Frobel, der Hausdramaturg Geordie Bookman und das Künstlerduo Ana Jordao und Vincent Kollar im Gespräch mit Christine Wahl über das Residenzprogramm, das das Chamäleon Berlin mit dem Preisgeld aus dem Theaterpreis des Bundes 2023 realisiert.

Hendrik Frobel (Geschäftsführung Chamäleon Theater), Claudia Roth (Kulturstaatsministerin), Anke Politz (Intendanz Chamäleon Theater) vor einer Fotowand © Dorothea Tuch

Hendrik Frobel (Geschäftsführung Chamäleon Theater), Claudia Roth (Kulturstaatsministerin), Anke Politz (Intendanz Chamäleon Theater)

Hendrik Frobel, als Sie und Ihr Team vom Chamäleon Berlin letztes Jahr den Theaterpreis des Bundes gewannen – und damit 100.000 € –, wussten Sie sofort, wie Sie das Geld investieren werden: nämlich in Künstlerresidenzen. Warum haben Residenzprogramme für Sie eine solche Priorität?

Hendrik Frobel: Weil wir uns darüber im Klaren sind, dass kreative Arbeit nicht vom Himmel fällt. Wenn wir Kunst erleben wollen – ganz gleich, ob im Bereich des zeitgenössischen Zirkus, auf den wir uns hier im Chamäleon spezialisiert haben, oder in anderen Disziplinen – müssen wir Zeit und Geld investieren.

Wie sieht Ihre Investitionsmaßnahme konkret aus?

Frobel: Grundsätzlich umfasst unser Programm für je eine Künstlerin, einen Künstler oder eine maximal vierköpfige Gruppe einen dreiwöchigen kostenlosen Aufenthalt in unserem Probenstudio „The Cave“ – mit einer finanziellen Unterstützung von 150 € pro Tag und Person. Innerhalb dieser Koordinaten versuchen wir aber, jede Residenz so individuell wie möglich auf die spezifischen Bedürfnisse zuzuschneiden. Für ein internationales Team können zum Beispiel Reise- und Unterkunftskosten essenziell sein, während es einer Berliner Gruppe vielleicht wichtiger ist, dass unser Hausdramaturg Geordie Brookman oder unser technisches Team sie stärker unterstützen. Wir haben ein Schema ausgearbeitet, um sicherzustellen, dass das Geld dabei fair zwischen allen Residenzen aufgeteilt wird.

Ana Jordao and Vincent Kollar, Sie sind als erstes Künstlerduo in den Genuss einer dieser insgesamt vier Residenzen gekommen, die am Chamäleon vom Theaterpreisgeld bezahlt werden. Eine professionelle, vom Haus zusammengestellte Jury hat Ihre Bewerbung aus insgesamt 40 Einsendungen ausgewählt. Wie ist es Ihnen denn gelungen, das Entscheidungsgremium zu entflammen?

Ana Jordao (lacht): Womit wir die Jury letztlich überzeugt haben, kann ich natürlich nicht beurteilen. Was sich aus meiner Perspektive aber auf jeden Fall sagen lässt, ist, dass ich schon mein ganzes Leben Bewerbungen schreibe, weil das einen größeren Teil meines Berufes ausmacht, als mir lieb ist, und dass das Bewerbungsverfahren für die Chamäleon-Residenz zu den positivsten Erfahrungen gehört, die ich in diesem Kontext gemacht habe, weil sie genug Raum gelassen hat, um die Punkte, auf die es mir ankommt, wirklich deutlich herauszustellen. Oft ist es so, dass man beim Verfassen der Bewerbungsunterlagen schier verzweifelt, weil man sein ganzes Projektvorhaben inklusive aller Erklärungen und Berufshintergründe auf 2.000 Zeichen quetschen muss.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Residentinnen und Residenten aus, Geordie Brookman?

Geordie Brookman: Wir suchen nach Künstlerinnen und Künstlern, die all die Elemente, die wir am zeitgenössischen Zirkus kennen und lieben, aufgreifen, neu kombinieren und auf originelle Weise weiterentwickeln. Denn von diesen Künstlerinnen und Künstlern hängt die Branche letztendlich ja ab. Ich meine: Ich würde nur allzu gern behaupten, dass es Leute wie Hendrik oder ich sind, die die Kunstform voranbringen (lacht). Aber in Wahrheit tun das natürlich einzig und allein diejenigen, die die Kunst tatsächlich ausüben.

Ana Jordao, Sie praktizieren ein besonders anspruchsvolles Element des zeitgenössischen Zirkus, nämlich das „Hair Hanging“, bei dem Ihr Körper mit den Haaren an einem Seil befestigt wird, an dem Sie anschließend durch die Luft fliegen. Woran haben Sie in der Residenz konkret gearbeitet?

Jordao: Wir verfolgen einen ziemlich experimentellen Ansatz, denn unser einziger Ausgangspunkt war tatsächlich die Frage, was man alles mit einem Körper anfangen kann, der mit den Haaren an einem Seil aufgehängt wird. Daraus entwickelte sich dann die Neugier, wie ein zweiter Körper, der auf der Erde bleibt und seine Bewegungssprache also aus komplett anderen Umständen heraus entwickelt, auf diesen ersten Körper reagiert, wie er mit ihm interagiert. So ist nach und nach ein Dialog entstanden, in dem sich Tanz und Zirkus, Körper und Objekte treffen und in dem wir unsere jeweiligen Hintergründe künstlerisch weiterentwickeln konnten – sei es Akrobatik, Kontaktimprovisation, Kampfkunst oder die wunderbare Nerdigkeit und Verspieltheit von Vincent.

Vincent Kollar: Solch ein Dialog im Kontext des Hair Hanging ist ziemlich ungewöhnlich. Bisher ging es jedes Mal, wenn ich diese Praxis gesehen habe, darum, dass die Person, die sie ausführt, ihr eigenes Bewegungsrepertoire stärker ausreizt – durch noch spektakulärere Drehungen oder Elemente. Aber das Hair Hanging in eine Erkundung des Raumes und eine Interaktion dieses schwebenden Körpers mit einem am Boden verbleibenden Akrobaten einzubetten, ist ein neuer Ansatz – der nicht nur ungewohnte Blickwinkel auf das Phänomen der Schwerkraft und andere physikalische Gesetzmäßigkeiten eröffnet, sondern auch ein neues Bewegungsvokabular kreiert.

Ein weiß gekleideter Mann liegt auf dem Rücken auf dem Boden eines Studios. Mit ausgestreckten Armen greift er nach den Füßen, einer an ihren Haaren von der Decke hängenden, schwarz gekleideten Frau. Ihr Körper ist bogenförmig überstreckt, ihre Arme ausgebreitet. © Dave Grossmann

"Hair Hanging" als künstlerische Praxis. Ana Jordao und Vincent Kollar während ihrer Proben im Chamäleon-Residenzprogramm.

Sie befinden sich jetzt in den letzten Tagen Ihrer Residenz. Haben sich die guten Eindrücke aus dem Bewerbungsverfahren bestätigt?

Jordao: Ich muss vielleicht vorausschicken, dass Residenzen in unserer Branche wirklich eine zentrale Rolle spielen, sodass man über die Jahre einen tiefen Einblick gewinnt, wie viele verschiedene Dinge sich hinter diesem Begriff verbergen können. Das Spektrum ist tatsächlich riesig. Manchmal bekommt man einfach nur für eine bestimmte Zeit einen Raum zur Verfügung gestellt, zu dem man dann mit seinem gesamten Team auf eigene Kosten reisen muss. Gelegentlich sind die Fahrt- und Unterbringungskosten auch dabei, und in ganz seltenen Fällen gibt es sogar Tagegelder. Die Chamäleon-Residenz rangiert am obersten Ende des Spektrums. Nicht nur, weil Vincent und ich hier drei Wochen lang von sämtlichen Ressourcen profitieren konnten, über die dieses Haus verfügt, sondern auch, weil wir die Möglichkeit bekamen, uns selbst und allen, die mit uns zusammenarbeiten – beispielsweise unserem Musiker – ein Honorar zu zahlen. Dass die Mittel zur Verfügung stehen, Leute für ihre Expertise und ihre Leistungen angemessen entlohnen zu können, ist in unserem Bereich leider keine Selbstverständlichkeit.

Neben der finanziellen Unterstützung sieht das Chamäleon-Residenzprogramm auch künstlerischen Support vor. Wie wichtig ist dieser Aspekt?

Jordao: Die Unterstützung durch jemanden wie Geordie, der über ein enormes Fachwissen verfügt – und dieses auch sehr großzügig mit uns geteilt hat –, hilft ungemein, um das eigene Projekt voranzubringen; nicht nur konkret inhaltlich, sondern auch perspektivisch, über die Residenzzeit hinaus. Wir haben zum Beispiel viel darüber gesprochen, wie wir mit unserem Programm sichtbar werden können; wie es uns gelingt, dafür öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. Wichtig waren außerdem die Techniker des Hauses, die für uns ein spezielles Licht-Setup entwickelt haben. Dass man nicht auf sich allein gestellt ist in seinem Probenraum, sondern dass viele Menschen und Abteilungen mithelfen, in jeder Hinsicht das Maximum aus dem Projekt herauszuholen – das gehört zu den besten Erfahrungen, die ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe. Vincent, ich und unser ganzes Team sind dafür extrem dankbar, und ich wünsche mir, dass solche Verbindungen zwischen renommierten Häusern und aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern generell weiter ausgebaut werden, weil sie die zeitgenössische Zirkus-Szene insgesamt stärken. In den Niederlanden gehören diese temporären Partnerschaften schon zur Arbeitsroutine innerhalb der Branche, in Deutschland sind sie noch nicht so etabliert.

Geordie Brookman, welche Vorstellungen verbinden Sie aus Ihrer Perspektive als Hausdramaturg und somit als einer der zentralen künstlerischen Köpfe des Chamäleons mit dem Residenzprogramm?

Brookman: Zuallererst einmal stelle ich immer wieder fest, dass eine riesige Erwartungshaltung an freischaffende Künstlerinnen und Künstler herangetragen wird – und zwar nicht nur im zeitgenössischen Zirkus, sondern generell in den darstellenden Künsten. Abgesehen davon, dass sie unter maximalem Kreativitätsdruck ihre Kunst entwickeln sollen, wird nämlich stillschweigend vorausgesetzt, dass sie darüber hinaus auch noch jeden anderen Bereich der Produktion professionell beherrschen, von der Logistik über die Verwaltung bis zur Öffentlichkeitsarbeit – obwohl das alles ganz eigene, höchst anspruchsvolle Spezialgebiete sind. Und jede dieser Zusatzanforderungen führt dazu, dass die Kraft, die Zeit und die Konzentration fürs Eigentliche reduziert wird: die künstlerische Arbeit. Deshalb ist unser Leitgedanke, ein optimales Umfeld für den kreativen Prozess zu schaffen. Und das bedeutet, dass niemand unter finanziellem Druck stehen darf, während er oder sie arbeitet, und dass von niemandem Fachkenntnisse auf Gebieten verlangt werden, die außerhalb der eigentlichen Profession liegen. Das ist die eine Sache.

Und die andere?

Brookman: Freischaffende Künstlerinnen und Künstler im zeitgenössischen Zirkus gehen in der Regel in Vorleistung. Sie erarbeiten eine Show, ohne für diese Kreationsleistung bezahlt zu werden, und hoffen, sie dann „verkaufen“ zu können. Zirkuskunst erfordert aber extrem lange Vorbereitungszeiten: Oft stecken die Künstlerinnen und Künstler drei, vier Monate in die Entwicklung einer neuen Produktion und können nur hoffen, dass sich das am Ende auszahlt. Als jemand, der einen großen Teil seiner Karriere als freischaffender Künstler verbracht hat, weiß ich, wie anstrengend das ist – und wie stark es den kreativen Prozess beeinträchtigt. Insofern hoffen wir, durch unsere Unterstützung das Potenzial, das in jedem Projekt steckt, wirklich zur vollen Entfaltung bringen zu können. Wir befinden uns ja in der glücklichen Lage, nicht nur finanzielle Mittel zur Verfügung stellen zu können, sondern auch jede Menge Expertise. Die Geheimwaffe des Chamäleons sind schließlich seine Humanressourcen (lacht)!

Geht es bei dem Residenzprogramm auch darum, künstlerischen Nachwuchs fürs eigene Haus zu entdecken und zu fördern?

Brookman: Natürlich haben wir die Hoffnung, dass es irgendwann eine andere Form von Verbindung zwischen den Teilnehmenden der Residenzen und unserem Haus geben wird. Aber selbst für den Fall, dass die Arbeit, die in den Residenzen entsteht, nicht auf der Chamäleon-Bühne landen sollte, stärken wir damit insgesamt unsere künstlerische Gemeinschaft enorm. Denn auch wenn ein hier begonnenes Projekt sein wunderbares Fortleben im Rest des Landes oder sogar in einem anderen Teil Europas fristet, werden wir als Chamäleon jedes Mal, wenn es aufgeführt wird, mit einem starken neuen Stück des zeitgenössischen Zirkus in Verbindung gebracht – und genau das ist es, was wir als präsentierendes und produzierendes Haus wollen. Je stärker und leistungsfähiger sich der gesamte Sektor erweist, desto besser stehen schließlich auch die Einzelinstitutionen da – und damit das Chamäleon.

Wie sieht es perspektivisch mit dem Residenzprogramm aus? 100.000 € sind zwar viel Geld, aber dennoch irgendwann aufgebraucht. Sollen die Künstlerresidenzen danach fortgesetzt werden?

Frobel: Bis zum April 2025 ist das Residenzprogramm durch die Theaterpreis-Gelder des Bundes finanziert. Wir werden die verbleibende Zeit intensiv nutzen, um Anschlussfinanzierungen für unser Residenzprogramm und damit für eine Vielzahl an Künstler*innen zu ermöglichen. Im Idealfall gelingt es uns sogar, die finanziellen Ressourcen noch weiter aufzustocken. Schließlich haben wir tonnenweise tolle Projekte, die wir gern unterstützen würden.