Wo immer ich ein Lied schrieb

Von Georg Kasch

Bernadette La Hengsts Abend „Mutter**Land“ erzählt anhand ihrer Familiengeschichte vom Provisorischen des Lebens. Ein Beitrag von Georg Kasch.

Bernadette La Hengst hat eine E-Gitarre umgehängt und zeigt auf einen Bildschirm, der neben ihr steht. Darauf ist eine schwarz-weiß Fotografe mit einem Kleinkind abgebildet. © Jasper Kettner

Bernadette La Hengst in der Performance "Mutterland"

Es ist frisch an diesem Frühlingsabend in Berlin. Während die Zuschauer*innen auf dem Gelände der Freilichtbühne Weißensee auf Stühlen, Hockern, Bierbänken zusammenrücken, die Kragen hochschlagen und sich Decken umwickeln, steht Bernadette La Hengst vorne auf der Bühne, T-Shirt, freie Zehen, und singt: „Où êtes vous à Beirut?“ Plötzlich scheint sich die Luft mit Wärme aufzuladen, ahnt man die Düfte von Restaurants und Cafés dieser einst als „Paris des Ostens“ gepriesenen Stadt. Denn der weit schwingende Klageruf, zu dem La Hengst die titelgebende Frage ihres Liedes macht – Wo seid ihr (hier) in Beirut? – erinnert an die Melismen der nahöstlichen Musiktradition. Wenn dann auch noch die Oud, die arabische Vorgängerversion der Laute, La Hengsts E-Gitarre umspielt, flirrt die Luft.

„Où êtes vous à Beirut?“ führt mitten hinein in die Suche, die Bernadette La Hengst in ihrem Abend „Mutter**Land“ unternimmt: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? La Hengst erzählt einerseits die Geschichte ihrer Mutter Gitti Grytz: In Schlesien geboren, floh deren Familie erst nach Sachsen, dann in den Westen, später lebte sie im Libanon und in Syrien – und starb früh an Krebs. Andererseits thematisiert sie ihre eigene Rolle als Working Mom: Als Zoom-Gesprächspartnerin kommentiert La Hengsts Tochter Ella die Erzählungen, denkt mit, hält sich die Überlegungen der Künstlerin auf der Bühne aber auch entschieden vom Leib: „Das musst du deine Mutter fragen, nicht mich.“

Weil diese Familiengeschichten zeigen, wie provisorisch das Leben ist, setzt sich an diesem Abend auch das Publikum in Bewegung, wechselt fünf Mal den Ort, blickt mal auf eine Leinwand, mal auf eine Bühne, dann wieder in die leeren Reihen der in den 50er Jahren entstandenen Freilichtbühne. Jede Station steht dabei für einen Lebensabschnitt, auch einen Ort: Schlesien, DDR, Bad Salzuflen, Beirut, Berlin. Und in jeder neuen Situation singt La Hengst ihre Lieder, das älteste „Provisorisch“ von 1995, das jüngste „Gib mir meine Zukunft zurück“ von 2021, noch unveröffentlicht.

Stephanie von Beauvais hat in ihren Videos historisches und aktuelles Material gemischt, Postkarten, Handyvideos, vergilbte Fotos, Gittis Schulaufsätze zum Thema Heimat. Manchmal geistert Tochter Ella in weißer Spitze als Gitti durchs Bild, schaltet sich dann wieder scheinbar live aus ihrem Zimmer zum Dialog dazu. Real auf der Bühne steht nur La Hengst mit ihrer E-Gitarre – alle anderen Stimmen und Klänge werden dazugemischt. Erst hinterher fragt man sich, wie das derart perfekt klappen kann.

Dass die Premiere am 30. Juni 2021 nicht in den koproduzierenden Sophiensälen, sondern in der Freilichtbühne Weißensee stattfand, lag an Corona – und hat den Abend entscheidend geprägt. „Die Ost-West-Geschichte, das Provisorische, die Stationen – das steckt ja alles in dem Ort“, sagt La Hengst. „Der Gedanke mit dem Spaziergang ist uns erst dort gekommen.“

Die Idee zu einem Abend über die eigene Familiengeschichte ist allerdings älter. Lange hatte La Hengst sich nicht dafür interessiert, „weil für uns die Schlesier alle Nazis waren, Unter-den-Teppich-Kehrer – da wollte ich raus“. 2015 allerdings war La Hengst am Theater Freiburg an dem Projekt Mehrheitsgesellschaft beteiligt, bei dem Senior*innen über 70 und junge Flüchtende zusammen spielten. Eine der älteren Damen war mit fünf Jahren aus Schlesien geflohen – wie La Hengsts Mutter. „Da wusste ich, jetzt ist die Zeit gekommen, meine Geschichte zu erforschen.“

Bernadette La Hengst tanzt vor einer Leinwand, auf die eine junge Frau projiziert ist. In ihrem Hintergrund ein Sternenhimmel. © Jasper Kettner

Bernadette La Hengst in der Preformance "Mutterland"

Vieles trug die Schwester ihrer Mutter bei, anderes hat sich La Hengst zusammenrecherchiert. Manches ergab sich durch Zufall, wie der Besuch ihres Großmutterhauses in der Nähe von Katowice. Bei anderem war ihr schon bewusst, dass daraus etwas entstehen könnte wie ihre Reise nach Beirut 2019 – nur in was die Filmaufnahmen Ibrahim Shehabs münden würden, war nicht klar. Während des ersten Pandemiejahrs kristallisierte sich das Projekt als Zusammenarbeit zwischen Mutter und Tochter heraus: „Ellas Perspektive ist wichtig, um das Narrativ – wir waren die Guten, Reflektierten, Offenen – auch mal zu hinterfragen“, sagt La Hengst.

Dass die Produktion 2022 dank der Wiederaufnahmeförderung des Fonds Darstellende Künste erneut gezeigt werden kann, ist für La Hengst ein Glücksfall: „Da stecken drei bis vier Jahre Arbeit und viel Liebe drin. Das kann nicht nach vier Vorstellungen zu Ende sein.“ Die Förderungssumme hat sie auf drei Orte gestreckt – nach den Vorstellungen im April in Hamburg und im Freilichttheater Weißensee im Mai wird es noch eine Aufführung im September in Hellerau/Dresden geben.

Wichtig ist La Hengst auch der Nachhaltigkeitsgedanke, der in einer Wiederaufnahme steckt: „Es macht doch keinen Sinn, ständig fünf Projekte gleichzeitig zu konzipieren“, sagt sie. „Dann lieber eins richtig.“ Nachhaltig ist zudem das Bühnenbild, das sich weitgehend auf den Ort stützt und für das kaum etwas neu angeschafft werden musste. Und dann ist da noch der Gedanke des Crossovers, also eine Mischung der Genres und Publika. Es sei schwer genug, das Konzertpublikum ins Theater und das Theaterpublikum ins Konzert zu locken. „Deshalb sollte der Abend noch viel öfter gespielt werden!“

Das wäre auch deshalb wichtig, weil „Mutter**Land“ etwas Wunderbares gelingt: Äußerst entspannt, leise, freundlich nimmt der Abend das Publikum bei der Hand und zeigt am Besonderen das Allgemeine. Er weist auf Traumata hin, die sich durch die Generationen der deutschen Nachkriegsgesellschaft ziehen, legt die Opfererzählungen der AfD offen, stellt eigene Gewissheiten in Frage. Hinterher öffnet La Hengst noch ihr Fotoalbum, um mit den Besucher*innen ins Gespräch zu kommen. Über Familiengeschichten, Lebenswege, Heimat, diesen fragilen, auch missbrauchten Begriff, für den La Hengst eine so schöne Definition gefunden hat: „Wo immer ich ein Lied schrieb, da bin ich zu Haus.“

Weitere Vorstellungen: Sonntag, 11.9. in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste
Weitere Vorstellungen für 2023 in Freiburg, München und Bremen sind angefragt.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.