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Heterogenität als Teil des Problems – und als Teil einer Lösung

By Thomas Kaestle

Ein Kommentar nach drei Monaten Ländertournee des Dokumentarfilms „DENNOCH! – Zur Lage der Freien Künste“

Die Niedersachsen-Premiere des Dokumentarfilms „DENNOCH! – Zur Lage der Freien Künste“ von Janina Möbius im hannoverschen Theater im Pavillon vor etwa fünf Wochen, die ich auf Einladung des Fonds moderierte, war ein Abend in zwei Teilen – mit jeweils sehr unterschiedlichen Gewichtungen von Klarheit und Differenzierung. Er begann auf der Leinwand mit einem bunten, fast halsbrecherischen Ritt durch viele aktuelle Beispiele für die gesellschaftliche Relevanz der Freien Darstellenden Künste und deren große Potenziale.

Die Basis dieser Potenziale wurde während der pandemischen Jahre durch den Fonds mit Mitteln aus dem Förderprogramm NEUSTART KULTUR modellhaft gestärkt: mit einer bedarfsgerechten, zukunftsgewandten Förderarchitektur, die viele Akteur*innen in die Lage versetzte, das zu tun, was sie besonders gut können – Teil eines dezentralen, effektiven Think Tanks für gesellschaftspolitische Fragestellungen zu sein und im Bedarfsfall schnell, kreativ, mutig, radikal und anschlussfähig zu reagieren.

Ein kulturpolitisches Podium füllte die zweite Hälfte der Veranstaltung mit Perspektiven auf die Zeit danach. Die NEUSTART-Mittel sind aufgebraucht, mit der letzten Förderphase der #TakeHeart-Rechercheförderung beginnt das Ende des Höhenflugs. Der Fonds kämpft kulturpolitisch um ein ausreichendes Förderbudget für 2024, um einen Teil des Erreichten weiterentwickeln zu können, während Länder und Kommunen der professionalisierten, aktivierten Szene mit ihren Förderprogrammen und deren finanzieller Ausstattung alleine nicht oder nur bedingt gerecht werden.

Panel discussion at the Pavillon in Hanover. Thomas Kaestle, Nina de la Chevallerie, Sven-Christian Kindler, Antonia Hillberg, Anikó Glogowski-Merten and Sabine Trötschel sit on the stage. In front of them the audience. Behind them a screen with projection. © Leona Ohsiek

Meine Podiumsgäste repräsentierten zahlreiche Perspektiven auf diese Problematik: die Bundespolitiker*innen Anikó Glogowski-Merten aus Braunschweig, kulturpolitische Sprecherin der FDP, und Sven-Christian Kindler aus Hannover, haushaltspolitischer Sprecher der Grünen, die junge Landespolitikerin Antonia Hillberg aus Hildesheim, SPD-Mitglied des niedersächsischen Landtags und dessen Kulturausschusses – ergänzt durch Sabine Trötschel (theaterwerkstatt hannover und Spielstätte Theater im Pavillon) sowie Nina de la Chevallerie (freies Theater boat people projekt in Göttingen und Mitglied im Vorstand des Bundesverbands Freie Darstellende Künste).

Die so abgebildete Heterogenität der am Diskurs Beteiligten ist Teil des Problems. Und sie ist Teil einer Lösung. Es geht dabei um eine bessere Kommunikation zwischen Haushalts- und Kulturpolitik, zwischen sehr unterschiedlichen Kommunen, Landes- und Bundespolitik, zwischen jungen und etablierten Positionen. Natürlich kann es bei einem solchen Podium nicht um verbindliche Zusagen und wasserdichte Pläne gehen. Es muss darum gehen, sich auszutauschen, zu sensibilisieren, zu informieren, ins Gespräch zu kommen, sich anzunähern. Die freien Szenen sind nun einmal alles andere als selbstverständlich.

Einander ernst nehmen

Ähnliches berichten auch die lokalen Zeitungen von anderen Länderpremieren des Films. Die Mitteldeutsche Zeitung schreibt, „das Wichtigste des Abends“ im WUK Theater Quartier in Halle sei gewesen: „Man sitzt an einem Tisch und nimmt einander ernst.“ Die Badische Zeitung benennt nach der Veranstaltung im Freiburger E-Werk einen zentralen Bedarf an Vernetzung, Interesse und Austausch. In der Tat ist die offene Auseinandersetzung mit Bedarfen und Potenzialen bereits viel wert in einem Prozess, an dessen Ende ein finanzieller Abgrund warten könnte.

Meine eigenen Erfahrungen mit den Freien Darstellenden Künsten bestätigen Komplexität und Dringlichkeit des Themas. Überblickspublikationen zu den Landesverbänden, deren Redakteur ich für den Bundesverband war, zeigen deutlich, wie wichtig es ist, regional gewachsene freie Szenen in ihren individuellen Strukturen wahrzunehmen – und dennoch deren Gemeinsamkeiten zu suchen. Als Jurymitglied der fünften Runde der #TakeHeart-Rechercheförderung des Fonds wurde mir nach zwei Nächten mit vielen Anträgen erneut sehr klar, dass die Freien Darstellenden Künste wesentliche Zukunftsfragen verhandeln. Sie setzen sich mit Themen wie Alter, Pflege, Krieg, Demokratie, Ethik oder Inklusion aber eben nicht fachspezifisch auseinander, sondern aus der Gesellschaft heraus, ergebnisoffen, anschlussfähig, interdisziplinär und mit ästhetischen Ansprüchen an deren Vermittlung.

Ausgerechnet die Berichterstattung der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung über unsere Niedersachsen-Premiere verdeutlichte eindrucksvoll, wie wichtig es ist, die Bedeutung der Freien Darstellenden Künste immer wieder neu zu betonen. Der von der Kulturredaktion beauftragte Kollege war den Zusammenhängen der Veranstaltung wohl unvorbereitet ausgeliefert. Es ging dabei nämlich keinesfalls um "Fragen wie etwa nach der Relevanz der Freien Szene für die Kultur", wie er schrieb. Die sind seit Jahrzehnten selbst für konservative Zweifler*innen geklärt. Vielmehr fragten wir nach der bundesweiten Relevanz bestimmter Projekte – die eine Förderung mit Bundesmitteln rechtfertigen würde.

Auch wenn die Freien Darstellenden Künste sich in kulturpolitischen Debatten längst selbstbewusst in einer für alle Zeiten schiefen Metapher erfolgreich als „zweite Säule der Theaterlandschaft“ vermarkten, auch wenn es gewiss frustrierend ist, sich immer wieder neu zu erklären und zu rechtfertigen, während sich Institutionen in unhinterfragten Selbstverständlichkeiten sonnen: Eine differenzierte Selbstdarstellung beugt Missverständnissen vor – wenn auch nur jenen, die nicht bewusst herbeigeführt werden.

In manchen Zeitungen steht nach den „DENNOCH!“-Premieren scheinbar die Sinnhaftigkeit der NEUSTART-Förderungen für die Freien Darstellenden Künste in Frage – als sei das alles ein wenig übertrieben gewesen für einen Haufen schräger Vögel. ZEIT online schreibt nach der Hamburg-Premiere (zu) locker-ironisch von einem „Förderparadies“ und einem „Propagandafilm“, die Rheinische Post nach der Düsseldorf-Premiere von „üppigen Mitteln“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach der Frankfurt-Premiere von „verwirrender Vielfalt“ und einem „Sammelbecken von Minderheiten und Kreativen, die sich unterprivilegiert wähnen“. Immerhin betont Letztere, wie wesentlich es sei, beim Nachdenken über Finanzierungsoptionen der Zukunft Förderformate konkret zu benennen, um der wenig nachhaltigen Praxis kurzlebiger Projektförderungen zu entfliehen.

Panel discussion at Kampnagel. Sibylle Peters, Dr. Carsten Brosda, Holger Bergmann, Mable Preach, Jens Dietrich and Amelie Deuflhard sit on the stage. In front of them the audience. Behind them a screen with projection. © Kampnagel

Wie breit ist der Rücken der freien Szene?

Das Hamburger Abendblatt thematisiert die bedrohliche Lage in Hamburg, wo aufgrund von Inflation, angepassten Honoraren und einer wachsenden Szene für die Anträge aus den Freien Darstellenden Künsten an die Kulturbehörde nicht einmal mehr eine Förderquote von 20 Prozent erreicht wird. Der Kultursenator wolle sich der Sache annehmen. Eines der zentralen Themen findet in der Berichterstattung zu den diskursiven Filmpremieren allerdings kaum statt: Die Notwendigkeit eines klugen Ineinandergreifens von kommunaler, Landes- und Bundesförderung.

Denn hier wird die aktuelle Situation besonders komplex – und scheint kaum lösbar. Die Bundespolitik verweist auf die Kulturhoheit der Länder, die Länder und Kommunen verweisen auf fehlende Mittel. Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition sieht vor, Kultur als Form der Daseinsvorsorge und damit als Pflichtaufgabe im Grundgesetz zu verankern, als grundlegend für eine integrative Gesellschaft – was Ländern und Kommunen nicht mehr erlauben würde, Kultur als „freiwillige Leistung“ nach Bedarf und Belieben zu kürzen.

Irgendwie sind sich alle einig, dass Kultur gefördert werden muss und dass gerade die freie Kultur wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer demokratischen, weltoffenen, gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft hat. Bei der Frage danach, was geschehen soll, wenn der Haushalt das dann eben doch unzureichend berücksichtigt, wird es schwieriger: Trägt die Politik die Diskussionen um Zuständigkeiten und Prioritäten dann auf dem Rücken der freien Szene aus? Die braucht nach einer überstandenen Krise schließlich mehr denn je Nachhaltigkeit und Resilienz – für die nächste Krise.

Da verwundert es umso mehr, dass mit dem Dramaturgen Henning Fülle ausgerechnet ein Akteur der Freien Darstellenden Künste unter anderem „DENNOCH!“ zum Anlass nimmt, in der Zeitschrift Theater der Zeit das Engagement des Fonds für einen Erhalt der Bundesförderung auf akzeptablem Niveau kritisch zu hinterfragen. In einem jener bewusst konstruierten Missverständnisse bezeichnet er eine „zentral verwaltete gesamtstaatliche Förderung“ als „Notbehelf“ aus Pandemiezeiten und versucht, ihr argumentativ Souveränität, Entscheidungsfreiheit und Widerständigkeit der regionalen freien Szenen gegenüberzustellen, deren gewachsene Strukturen vor allem einer entsprechend regionalen Förderung bedürften.

Die behauptete „Selbstermächtigung“ der freien Szenen nimmt Fülle offenbar auch für eine verklärende Chronik in Anspruch, auf deren Grundlage er sich individuelle Fördersysteme vor Ort wünscht. Dass jedoch exemplarische Labore zum Status Quo einer Szene auf der Makroebene nur bedingt fruchtbar sind und dass junge Akteur*innen sich nicht zwangsläufig in die oft an Grenzen gestoßenen Strukturen vorgezeichneter Traditionslinien pressen lassen wollen, erkennt er der Entwicklung der Freien Darstellenden Künste ab. Bei alldem bleibt Fülles Text jedoch ein leidenschaftliches Plädoyer für bessere Arbeitsbedingungen.

Gemeinsam oder gar nicht

Das Podium in Hannover hat – wie wohl auch andere auf der „DENNOCH!“-Tournee – positiv gezeigt, dass Regionalität nicht etwa Provinzialität bedeuten muss und sich ohne Eitelkeiten und Konkurrenzen für die Sache der Freien Darstellenden Künste werben lässt – mit allen Individualitäten, die längst nicht mehr nur räumlich zu definieren sind. Die bundesweite Bedeutung der freien Szenen ergibt sich aus einer gewachsenen Mobilität und Vernetzung, aus interdisziplinärem, überregionalem und sogar internationalem Arbeiten, aus neuen, an gesellschaftlichen Bedarfen orientierten, Strukturen und Formaten.

Bundesförderung hat hier eine Verantwortung, Impulse zu setzen, Entwicklungen und Expertisen zu bündeln und den freien Szenen eine Bewegungsfreiheit ohne Wohnsitzlimitierung zu ermöglichen. Wem nutzt es in der aktuellen Situation, Antagonismen herbeizubeschwören und Förderer gegeneinander auszuspielen? Dabei kann keine Seite gewinnen. Alt gegen jung, Tradition gegen Innovation, regional gegen bundesweit, Nische gegen Breite, allgemein gegen speziell, klein gegen groß? All diese Aspekte und Qualitäten machen gemeinsam die Freien Darstellenden Künste aus, sie sind keine Alternativen.

Und vor allem gemeinsam, wie zum Beispiel auf den zahlreichen regionalen „DENNOCH!“-Podien, wird es gelingen zu vermitteln, zu werben, zu sensibilisieren, zu kontextualisieren, zu erklären, abzuholen, einzubinden – ohne die Notwendigkeit, zu beschönigen, zu glätten, zu mythologisieren, zu romantisieren oder dick aufzutragen. Nicht alles in den Freien Darstellenden Künsten ist bunt und einleuchtend. Auch die leisen, oft unbemerkten, scheiternden, tastenden, grundsätzlichen oder stetigen Projekte sind wichtig für deren Beitrag zur Gesellschaft. Vielleicht wird es tatsächlich notwendig bleiben, die Parameter dieses Beitrags und entsprechend zielführende Fördermodelle immer wieder neu zu verhandeln, da er sich in seinen Details stetig analog zur Gesellschaft verändert: klar und differenziert.